Freitag, 10. August 2012

Samstag 2002-08-10 | DIE WELT HAT MICH WIEDER, DOCH WAS HAT DIE WELT DAVON?

Der letzte Tag: Wertheim/Würzburg/Nürnberg/Bayreuth/Jena

Dauerregen - er regnet in Strömen. Ich bin kurz vor sechs Uhr aufgestanden und sitze jetzt, kaum dreißig Minuten später, in meinem Zeit bereits an meinem IBM Laptop und bereite mich darauf vor, eine kurze Bilanz zu ziehen, bevor ich heute Abend in Jena über die Reise berichten werde.

1.) Der Laptop war mir ein zuverlässiger Begleiter in den letzten siebzehn Tagen, manchmal vielleicht ein bißchen zu lässig, denn es gab keinerlei technische Probleme. Oder besser gesagt:  die Probleme, die HAL im Jahre 2001 verursacht hatte, macht der Buchstabenvetter IBM im Jahre 2002 nicht.

2.) Mit meinem Füller habe ich ebenfalls geschrieben, darunter auch Briefe an meine Nichte, da sie sich vor der Reise allgemein bei mir darüber beklagt hatte, dass sie so wenig Post von mir bekäme. Und jetzt hat sie drei Briefe von mir aus siebzehn Tagen Europa, mit drei verschiedenen Briefmarken darauf, alle mit Beträgen in Euro und doch alle unterschiedlich in Aussehen und dem jeweiligen Beförderungsbetrag - hier ist Europa also noch nicht zusammengewachsen. Auf mein Handy hat sie mir eine SMS geschickt, dass alle Briefe gut angekommen sind und ich rate ihr, diese Briefe gut aufzuheben, denn wer weiß, was sie später noch einmal wert sein könnten.

3.) Mein Handy war während meiner Reise fast immer aus gewesen. Hier gab es anfangs technische Probleme und später dann meinerseits ein klein wenig Angst vor zu hohen Verbindungskosten. Für später geborene Leser meines Reiseberichts kaum zu glauben: im Jahre 2002 gab es in Europa in jedem Land eigene Telefonanbieter und die raubten ausländische Telefonkunden aus, sobald diese ihr Handy benutzten. "Roaming" nannte sich das System und als reisender Europäer war man froh, hin und wieder noch auf das gute, alte Münztelefon zu treffen. - Sich bei der "Außenwelt" zu melden, während einer Reise, ist natürlich obligatorisch und ich tat es via Münz-Telefon, Brief, Postkarte, Reisegeschichte. Denn meine Reise ist bzw. war ja weder eine Flucht à la Goethe gewesen, noch Entdeckungsreise wie bei James Cook, sondern der Versuch, Dinge, Menschen, Landschaften ein klein wenig besser zu verstehen.

4.) Für meine direkten Familienmitglieder habe ich aus Frankreich, Deutschland und Holland Wurst und Pasteten, Käse und Wein, Meersand und einiges andere mitgebracht. Sie liegenin einer Kisten, die heute abend hoffentlich in froher Erwartung ausgepackt werden wird.

Fazit

Dante Alighieri erzählt in "Die göttliche Komödie" die Geschichte einer Reise des Verstandes und genau das waren meine "17 Tage Europa". Denn in einer Zeit, in welcher dem Menschen Teile seiner Kultur und Gesprächsführung abhanden gekommen zu sein scheinen, in der in vielen Medien Floskeln und Phrasen von gut uninformierten Fragern fast schon als Versuche zu werten sind, Freundschaften zu schließen anstatt kritisch zu berichten (übrigens die strrikte Abkehr des alten Grundsatz von Hanns-Joachim Friederichs "Immer dabei sein, nie dazugehören!"), in einer solchen Zeit hat man einen Verstand ganz einfach auch einmal auf Reisen zu schicken. Basta!

Deshalb fehlt mir nach siebzehn Tagen TV-Pause kein einziges verpasstes Interview, keine Quizshow, kein Nachrichtenüberblick. Gute Filme, die fehlen mir schon, aber die kann man sich im Leben immer noch einmal ansehen. Wohlwollend durfte ich feststellen, dass das Radio auf der Reise nach wie vor kein antiquiertes Informationsportal ist. Auch wenn ich, egal wo immer auf diesem Planeten, die ganze Welt auf einem einzigen Tablett jederzeit zur Verfügung haben könnte: ich würde mich immer wieder für das Radio entscheiden. Und genauso wie die Zeitung mehrere Jahrhundertsprünge ohne größere Schäden überstanden hat, wird auch das Radio zukünftig keinerlei Schaden nehmen. Allein, weil der Äther immer existieren wird und es so einfach ist, Radiowellen durch ihn und übe ihn auf eine Reise in menschliche Ohren zu schicken.

Als Gegenleistung kann der Empfänger wiederum, wenn er sich die richtige Quelle aus dem Äther fischt, viel aus ihr schöpfen. Geistig verdursten braucht heutzutage niemand. Doch: Jeder Mensch bekommt die Quelle, die Erleuchtung, den Radiosender, die TV-Sendung, das Buch, das er/sie/es verdient. Und jeder ist frei zu wählen, ob er kaltes klares Wasser zu sich nehmen will oder vielleicht einen Cocktail aus Waldbränden in den Vereinigten Staaten/Australien/Griechenland, gemnixt mit verschwundenen Babys/Gewaltverbrechen, ausgebrannten, schamlosen, millionenschweren SängerInnen in Dessous/Scheidung/Drogenrausch und abgeschmeckt mit sportlichen Fehl- und/oder Höchstleistungen, unmoralischen oder liebenswerten Politikern oder anderen Gesinnungsnomaden.

Jeder Mensch hat die frei Auswahl, sollte aber bereit sein zu akzeptieren, dass vieles, was uns heutzutage als "Das wahre Leben" verkauft wird, nichts anderes ist als Popmusik: Kreischend, intensiv, atemberaubend, morgen schon wieder vergessen und vom Grunde her unwichtig. Nicht lebensnotwendig!

Und natürlich: Immer wird sich auch ein Experte/Liedermacher/Talkshowgast finden, der attestiert, das, was uns die Medien vermitteln sei eine erlaubte Ironisierung unseres Lebens. Aber, was viele dabei vergessen: Es ist UNSER Leben! Oder (...sagen Sie es bitte ganz laut zu sich selbst...): Es ist MEIN LEBEN!

Jeder Mensch kann jederzeit sein Leben und dessen Umstände in irgendeiner Weise selbst beeinflussen. Er muss nur seinen Verstand auf Reisen schicken. Schauen Sie sich nur den Film "Magnolia" an - in dem es gegen Ende so stark regnet, dass Frösche vom Himmel fallen. Es scheint fast, dass es bald vor meinem Zeit ebenso weit ist - und merken Sie sich den Kernsatz dieses Films von Paul Thomas Anderson der da heißt: "Wir haben vielleicht mit der Vergangenheit abgeschlossen, aber die Vergangenheit nicht mit uns."

in diesem Sinne...

Der Verfasser

Losung am 10. August

"Ich möchte Weltenbürger sein,
überall zu Hause und überall unterwegs."
(Erasmus von Rotterdam)

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