Dienstag, 31. Juli 2012

Mittwoch 2002-07-31 | PRINZENWETTER

Der siebente Tag: Saint-Marie-de-la-Mer/Arles/Orange/Lyon/Macon/Chalon-sur-Saône

Die Sonne brennt den sechsten Tag, der Wind wird immer stärker, alles ist voller Staub und so fahre ich am späten Morgen von der französischen Küste wieder nach Norden, denn da soll es ab Mittag laut "Le Figaro" bewölkt sein; ein bisschen weniger Sonne könnte mir schon gefallen. Also fahre ich zurück nach Chalon-sur-Saône. Die Hektik des 'Sud' hinter mir lassend bin ich wieder auf der Landstraße unterwegs. Ich muss an Antoine de Saint-Exupéry denken. Er war auch nach Norden unterwegs, die Sonne und den Staub hinter sich lassend und es war ebenfalls an einem 31. August. In einem Flugzeug war er von der Insel Korsika Richtung Norden zur französischen Cote d‘Azur gestartet und kehrte nie mehr zurück. Seine Geschichte des kleinen Prinzen hatte er da bereits geschrieben, aber wegen des Krieges war sie noch nicht veröffentlicht.

Die Idee zur Geschichte über den melancholischen Prinzen war ihm gekommen, weil er selbst in der Familie als kleiner Junge immer nur 'Le Roi Soleil' / 'Der Sonnenkönig', genannt worden war. Jeden Sommer durfte er Monate auf einem Schloß in Savoyen verbringen und im Winter war er in Südfrankreich an der Cote d’Azur. Er war wirklich ein verwöhnter Sonnenkönig. Was lag da näher, als 'Le Roi Soleil' in der Wüste auf einen kleinen Prinzen treffen zu lassen?

Antoine wollte Erfinder werden, Dichter oder Pilot. Die riesigen Ländereien seiner Familie wollte er mit einem ausgeklügelten Bewässerungssystem versehen; exakt plant er es. Und "Saint-Ex" lernt fliegen, damit er alles von oben aus besser sehen kann. Aber Fliegen kann auch manchmal langweilig sein. Und so denkt er sich Geschichten aus mit amüsanten Titeln wie "Autobiographie eines Zylinders". Antoine schreibt die Geschichten auf in kleine Hefte. Ärgerlich, dass man sie nur zur Kenntnis nimmt, um seine völlige Ignoranz der Regeln der Rechtschreibung zu kritisieren. So etwas interessiert einen Sonnenkönig nicht! Er verlegt sich daher auf die schönen Künste, studiert Architektur und verdingt sich als Statist beim Theater. Seine wohlsituierte Familie unterstützt ihn Zeit seines Lebens großzügig, fördert jede, auch nur so kleine Neigung Antoines immer wieder aufs Neue.

Im Frühjahr 1921 wird er in die französische Armee einberufen und lässt sich, natürlich, einer Luftwaffeneinheit zuteilen. Diese ist im, von Deutschland neu eroberten, Elsass stationiert. Leider haftet "Saint-Ex" der Ruf an, ein Bruchpilot zu sein und so wird er schon bald nach Le Bourget versetzt. Schon wieder diese Ignoranz. Er wurde allein deshalb nach Paris versetzt, weil er seinen ersten Alleinflug mit qualmendem Motor und versengter Uniform absolviert hat. Aber seinen Spitznamen hatte er nun weg: 'Pique la Lune' - der Franzose weiss, was damit gemeint ist...die Übersetzung "Träumer" trifft es nicht einmal im Ansatz.

Sein Offizier ist sich sicher: "Der Kerl wird nicht im Bett sterben". Nach einem weiteren spektakulären Absturz, den er fast unversehrt überlebt, quittiert er schon 1923 den Dienst, versucht sich als Geschäftsführer einer Ziegelei, dann einer Autofirma. Wie langweilig! Also wechselt Antoine de Saint-Exupéry wieder zurück zur Fliegerei und wird Postflieger in Südamerika. Endlich findet er einen Freund, der auch seine Bücher mag: André Gide. Ihm schickt er alle seine Geschichten und längeren Werke. Dieser notiert 1931: "Antoine hat aus Argentinien ein neues Buch und eine neue Verlobte mitgebracht. Habe das eine gelesen, das andere gesehen. Habe ihn herzlich beglückwünscht."

Im zweiten Weltkrieg ist "Saint-Ex" auf Korsika stationiert. Er erlaubt sich einige Alleingänge, die das Militär nicht gerne sieht, aber es ist ja schließlich Krieg und gerade bei den Fliegern braucht man jeden Mann. Am 31. Juli 1944 startet 'Le Roi Soleil' ohne Erlaubnis zu einem 'Aufklärungsflug', so nennt man einen Flug ohne festes Ziel. Es wurde sein Flug in die Ewigkeit.

Bei meinem 'Flug' zurück in die Mitte Frankreichs stimmt diesmal die Richtung der Sonne für die Photos und hinter Orange hole ich die Kamera wieder aus dem Versteck, denn man hatte mich vor Südfrankreich gewarnt: Die Menschen dort wären sehr arm, würden keine Autos besitzen, dafür aber eine große Leidenschaft für das Fotografieren. Deswegen mögen sie manche Dinge eben sehr, sehr gerne. Bei mir ging jedenfalls alles gut und am frühen Nachmittag hatte ich drei Filme verknipst, darunter von Sonnenblumen- und Konnfeldern, und war wieder zurück in Chalon. Wie schön kann es doch sein, eine flüchtige Bekannte wieder zu treffen und die noch frische Erinnerung nochmals auffrischen zu können. Und ich hatte Zeit für einen literarischen Nachmittag und Abend mit gelegentlichem warmen Nieselregen bei 27 °C.

Ein Theaterstück will fortgeführt werden; "Eichenlaub"-Regisseur Rainer W. Fassauer hat gerade live im TV ein Interview mit Bettina Ernst zu überstehen. Natürlich schafft er es. Bleibt also noch Zeit für eine kleine Geschichte, die hier erzählt werden kann. Eine Episode aus dem Leben eines kleinen Prinzen, der sich von einer Schlange sein Rückflugticket geholt hatte und wieder auf seinem Asteroiden B 612 angekommen ist. Es ist noch vor der Zeit, als Jean-Pierre Davidts auf ihn trifft, der anschließend Antoines Geschichte weitererzählt. Davids nannte sie "Le petit prince retrouvé" und in seiner Geschichte erzählt er, wie der kleine Prinz auf die Erde zurückkehrt.

Ich jedoch erzähle in meiner Geschichte "Le retour dans B 612" davon, wie ein kleiner Prinz zuu aller erst auf seinen Asteroiden zurückkehrt und was er dort erlebt. Ob es DER kleine Prinz ist, kann ich aus rechtlichen Gründen nicht sagen. Einige Episoden von "Le retour..." habe ich bereits fertig (jawohl, dieses Mal stimmt der Satz). Heute aber schrieb ich im Gedenken an den letzten Flug von "Saint-Ex"eine besondere Episode:


II.

Nun war er also wieder auf dem Weg zurück zu seinem Asteroiden. Antoine, den Piloten, hatte er in der Wüste zurück lassen müssen. Aber das war nicht schlimm, da würde er schon wieder herauskommen, auch wenn seine Maschine dafür vielleicht nicht die beste Möglichkeit darstellte.

Manches, was Antoine ihm erzählt hatte, verstand er nicht. Wieso ist es für einen Piloten das schönste, bei einem Nachtflug zu sterben? Antoine hatte ihm gesagt, dass man dann über sich die ganzen Sterne und unter sich seine geliebte Erde hat. Ein kleiner Prinz musste nicht alles verstehen, dachte er sich und er fragte sich, ob Antoine wirklich ein Buch über ihn schreiben würde und ob dann später in den Buch auch alles wieder zu finden war, worüber an sich unterhalten habe. Und so verging die Zeit und als es schon begann ihm langweilig zu werden, als er schon auf mehr als 720 Asteroiden die Schafe gezählt hatte, da kam er doch tatsächlich wieder zurück zu seinem Asteroiden.

Er erkannte ihn sofort, denn alles war noch so, wie er ihn verlassen hatte. Die Rose stand geschützt unter einer Glashaube, die Schlote der Vulkane hatten zwar etwas Ruß angesetzt, aber noch nicht genug, dass es für einen kleinen Prinzen unmöglich gewesen wäre, sie zu reinigen. Hier und da spriesste etwas Unkraut aus dem Boden und er konnte schon gut unterscheiden, ob es sich um Rosen oder Sprösslinge von Affenbrotbäumen handelte. Ein kleiner Prinz, dachte er, könnte die leicht in einer Stunde harter Arbeit mit seinen Händen herausreißen. Andererseits hatte er ja auch noch sein Schaf. Er holte Antoines Zeichnung mit der Schachtel hervor und sah nach dem Schaf.

Vorsichtig öffnete er die Schachtel. ‘Hallo, mein Schaf’ sagte er und fügte im nächsten Moment überrascht hinzu ‘...wie siehst Du denn aus.’ Das Schaf war während der Rese zurück auf den Asteroiden schwarz geworden. ‘Ich bin schwarz geworden.’ sagte das Schaf. ‘Ein kleiner Prinz sieht so etwas sofort,’ entgegnete er und fügte hinzu ‘...gab es dafür einen bestimmten Grund?’. Er machte sich bereits Vorwürfe, weil er vor seiner Abreise von der Erde an alles gedacht hatte, nur nicht daran, dass sein Schaf während der Reise schwarz werden könnte. ‘Daran ist meine Familie schuld.’ sagte das Schaf. Seit Generationen gibt es bei uns nur weisse Schafe. Sogar meine Schwester, die alles Talent hätte, ein schwarzes Schaf zu sein, ist am Ende trotzdem weiss geblieben.’ ‘Das erklärt immer noch nicht, weshalb Du schwarz geworden bist.’ sagte der Prinz ratlos.

‘Mit Familien, musst Du wissen...’ sagte das Schaf ‘...ist es so: Auch wenn sie keine Schafsfamilien sind, hätten sie gerne, dass ein Mitglied der Familie ein schwarzes Schaf ist. Früher hat man einen Sündenbock gesucht und daraus wurde heutzutage das schwarze Schaf.’ ‘Das verstehe ich’, sprach der Prinz. ‘Und weil es bei Dir in der Familie kein schwarzes Schaf gibt, hat man beschlossen, dass Du es werden sollst.’ Er war froh, ein Schaf zu haben, das etwas besonderes war. ‘Und hast Du Dich darüber gefreut?’ fragte er das Schaf. ‘Darüber kann man sich nicht freuen’ sagte das Schaf streng zu ihm. ‘Ein schwarzes Schaf ist niemand gerne.’

Das Schaf sah, wie sein kleiner Prinz es ratlos anschaute und musste lachen. ‘Wieso schaust Du mich an, wie ein Schaf.’ Der Prinz beschloss, die Unterhaltung mit dem Schaf zu beenden. Wahrscheinlich wusste es noch nicht, dass es nun, da es schwarz war, ein besonderes Schaf geworden war. Außerdem schien albern zu sein. Auf der Erde war ihm das noch nicht aufgefallen. Was sagte es da zu ihm? Er täte es, obwohl er doch ein kleiner Prinz war, anschauen wie ein Schaf. Er fand das äußerst anmaßend von den Schaf, für das er doch so viel getan hatte. Und nun ist es auch noch albern geworden, nur weil er nicht daran gedacht hatte, es richtig zu beschützen. Ratlos und etwas eingeschnappt legte er sich schlafen.

Am Ende, dachte er sich so beim Einschlafen, würde vielleicht noch seine Familie kommen und ihm verkünden, er müsse unbedingt ein schwarzes Schaf werden. Ein schwarzes Schaf, ein schlafenden schwarzes Schaf, ein albernes anmaßendes schlafendes schwarzes Schaf. Dachte er und dann schlief er ein.

So geht für mich der Juli 2002 in Frankreich zu Ende. Zwei Tote sind zu beklagen, die vielleicht noch etwas länger gelebt hätten, wenn sie in ihren jeweiligen Leben manche Dinge anders betrachtet oder gewertet hätten. Aber hätten sie dann auch ihre unvergleichlichen Werke schaffen können? Die Antwort darauf, die kennt wahrscheinlich nur der, in Chalon heute Abend immer stärker werdende, Wind.

Morgen früh werde ich in das Elsaß fahren. Vielleicht finde ich dort zufällig den Flughafen, den Antoine kurz kennenlernen durfte. Zuvor mache ich sogar noch einen kleinen Abstecher zurück nach Deutschland, um ein Paket mit französischem Käse, das meine Familie bei mir bestellt hatte, per Deutscher Post nach Hause zu schicken.

Losung am 31. Juli

"Es gab einmal ein Zeitalter - es war das griechische -
da war der Mensch das Maß aller Dinge.
Heute sind die Dinge das Maß aller Menschen."
(Werner Finck)

Montag, 30. Juli 2012

Dienstag 2002-07-30 | ABSTECHER ANS MEER, OHNE ES ZU BETRETEN

Der sechste Tag: St. Remy/Macon/Lyon/Orange/Arles/Saint-Marie-de-la-Mer

In Macon fängt der Süden Frankreichs an, sagt man; Macon ist sozusagen die nördlichste Stadt Südfrankreichs. Dass Macon vor vier Tagen Ankunftsort der vorletzten Etappe der Tour de France '02 war, sieht man noch überall. Stolz wie echte Sportler fahren die Menschen in Macon durch ihre Stadt. Selbstverständlich nicht auf dem Fahrrad. Dafür gibt es ja die Tour. Nein: Der junge urbane Franzose bewegt sich auf dem Motorrad durch die Gassen, dies mit einer irrwitzigen Geschwindigkeit und natürlich gekonnt. Die junge urbane Französin zieht da eher das Automobil vor, denn sollte sie auf dem Sozius sitzen, dann bestimmt nicht lange. Das bedingt schon allein das Gesetz der Schwerkraft. Sie fährt also deshalb Automobil und dies mit ebenso irrwitziger Geschwindigkeit wie der männliche Motorradfahrer. Dass beide keine schweren Unfälle verursachen, ist im grunde nur logisch und liegt in der Natur der Sache: beide bewegen sich so schnell im Straßenverkehr, dass die Chance eines Zusammenpralls reziprok zur Geschwindigkeit abnimmt.

Dieses Mal habe ich die Landstraße gewählt, nicht wegen der jungen urbanen Franzosen, sondern weil die Landstraße nicht so stark befahren ist wie die Autobahn und man dort auchviel mehr sehen kann. Je weiter man nach Süden vorstößt, desto mehr Sonnenblumenfelder gibt es und natürlich Kornfelder, die teilweise gerade frisch gemäht wurden (ich vergaß zu sagen, dass es nach wie vor heiß ist. Auch vergaß ich zu erwähnen, dass ein Mann, der gestern vor 112 Jahren gestorben ist, Sonnenblumen- ebenso wie Kornfelder sehr geliebt hat).

Auf meiner Reiseroute des heutigen Tages liegen laut "Le Figaro" die heißesten Orte Frankreichs an diesem 30. Juli 2002. Dazu zählt auch Orange, die Stadt, der die Holländer ewig dankbar sein müssten, denn ohne sie gäbe es die Oranier nicht, deren britischer Zweig jedes Jahr geräuschvoll durch Belfast marschiert, dessen niederländischer Stamm aber seit dem Abfall von Spanien, geschehen auf den Tag genau vor 421 Jahren - man lese nach bei Friedrich Schillers grandiosem Frühwerk "Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande von der spanischem Regierung" - das Land der Windmühlen (und somit auch die Heimat des Mannes, der sich einst in die Brust geschossen hat) regiert und den Oranje-Kult kreierte.

In der Stadt Orange in Frankreich waren dagegen früher die Römer zugange und es gibt dort noch ein fast unbeschädigtes Amphietheater (zu dem wir Europäer des 21. Jahrhunderts "Open-Air-Bühne" sagen würden). Das Amphietheater in Orange hat noch die originale Bühne und ein echter römischer Augustus Kopf steht daneben. All das hat die Jahrtausende unbeschädigt überstanden und ich fand es im heißen und staubigen Orange. Ja, es ist durchaus staubig geworden im Rhonetal.

Ich verlasse Orange am Mittag und fahre noch weiter südlich nach Arles, der Stadt die der un-heilige Vincent so geliebt hat. Wie oft er die Landschaft um Arles (...das ‚...es‘ spricht der Franzose nicht aus; die Stadt wird daher einfach ‚Arl‘ genannt...) in leuchtenden Farben malte oder Details aus der Umgebung kann man schon kaum noch aufzählen. Vor allem, weil er oft ein altes Bild übermalte, weil er keine neue, frische leinwand mehr hatte.


Auch Saint-Marie-de-la-Mer, unweit von Orange, liebte er, malte die Zugbrücke oder die Fischerboote am Mittelmeer. Saint-Marie ist Wallfahrtsort der Gypsies, die wir Deutschen trotz Bregovics "Time of the Gypsies" und der musikalischen Erfolge der Gypsy Kings, nach wie vor und zu oft Zigeuner nennen. Nun, diese Menschen treffen sich in Saint-Marie-de-la-Mer, waschen dort ihre Madonnastatue und das scheint gar nicht mehr so lange hin zu sein, bis zur nächsten Wäsche, denn bei Lidl (...tja, es gibt in Europa ja schließlich nicht nur unseren Aldi)...bei Lidl also, wo ich heute einkaufe, war alles voller weiblicher Gypsies. Oder wie nennt man sie? Gypserinas? Gut, jedenfalls sind auch die anscheinend äußerst preisbewusst.

Zu meiner Schande muß ich hier auch noch gestehen, dass ich mich bei Lidl noch besser zurechtgefunden habe, als gestern bei Aldi. Es gab bei Lidl in Saint-Marie-de-la-Mer für mich noch mehr Produkte mit Wiedererkennungswert, viele sogar mit deutschem Erstaufdruck und die französische Gysieuse muss dann auf der Rückseite nachlesen, um was es sich bei dem angebotenen Produkt in Wirklichkeit handelt. Auch hier kann man mit Kreditkarte zahlen und davon hatten die - nennen sie sich vielleicht GypsiInnen oder Gypsiefrauen? Ich gebe zu: ich habe keine Ahnung - jedenfalls hatten sie eine Menge davon.

Aber Arles liegt auch nahe Marseille, der Stadt von der die Franzosen die Marseillaise übernommen haben und die dafür als Dank jede Menge nordafrikanische Einwohner bekommen hat. Deshalb wundert es mich nicht, wenn bei Lidl neben - einigen wir uns jetzt bitte endgültig auf: Romanistinnen - auch Algerierinnen einkaufen. Dies muss Lidl schon vorher gewusst haben, denn man kann dort im Supermarkt etwas kaufen, was es sonst nirgends gibt: Couscous. "Voorgekookt" besagt die Packung und "Eerste Kwaliteit". Das macht mich neugierig und ich lese nach. Tatsächlich stammt das Couscous nicht direkt aus Afrika sondern wurde in Belgien für Lidl "geproduceerd". Ah, denke ich, deshalb auch die Angaben über "Ingredienten" und "Energetische waarde" auf der Packung. - Ob’s die algerische Mutter mit drei Kindern und einem vierten im Bauch interessiert? Auf jeden Fall ist Arles aus meiner sicht ein weiterer Beweis für das Zusammenwachsen Europas, jedenfalls, was das Essen betrifft.

Übrigens kann man auch nach Arles oder nach St.-Marie fahren um im Meer baden zu gehen. Mir war es jedoch viel zu voll am Strand. Fischerboote, wie bei Vincent, lagen keine im Sand und ins Meer gehen kann man woanders auch, dachte ich mir. Viel interessanter war für mich die Tatsache, dass die jungen urbanen Französinnen und Franzosen hier mindestens noch eine Ecke schneller fahren, als in Macon. Ob das an der Nähe zu Marseille und St. Tropez liegt oder an den Filmen des Cinema Noire mit Ventura, Delon oder Noiret? Ich kann es nicht sagen, denke aber dass sich aus den dort gezeigten Verfolgungsjagden der ur-menschliche Jagdtrieb wieder ausgebildet hat und viele Franzosen denken wahrscheinlich, dass alle Welt denkt, dass Franzosen einfach so fahren müssen. Könnte darin nicht ein kleines Körnchen Wahrheit liegen?

Losung am 30. Juli

"Schreckliche Molukken, mit braunen Gesichtern, Herr Kommissar!"
(Louis de Funes in "Les Aventures de Rabbi Jacob")

Sonntag, 29. Juli 2012

Montag 2002-07-29 | ALDI IST ÜBERALL

Der fünfte Tag: Chalon-sur-Saône/St. Remy

Der nächste schöne Sommertag. Blauer Himmel, kaum Wolken, flirrende Hitze. Genau wie vor 112 Jahren. Kurz vor der Abreise in den Süden nach Arles mache ich noch einmal Station an einer ur-deutschen Bastion europäischem Zusammenwachsens. Neugierig, ob die Albrecht-Brüder es auch den Franzosen zu verdanken haben, zu Europas Geldadel aufgestiegen zu sein, und wie es die Grande Nation mit dem Lokalpatriotismus hält, wenn Billigpreise locken, betrete ich einen "Aldi Marche" in St. Remy.

Tatsächlich: schon von außen war zu bemerken, dass man im Begriff ist, einem Aldi-Supermarkt zu betreten. Die gleichen Klinkersteine, der gleiche Braun(!)-Ton der Türrahmen und Schaufenster, die gleichen Neonröhren wie in Wanne-Eickel, Jena, Bamberg und wahrscheinlich auch in Barcelona oder Lissabon.

Schon beim Eintreten - ich rede jetzt hier nicht von meinem erstmaligen Betreten eines Aldi-Marktes, sondern von Betreten ohne Schamgefühl, ganz so als ob man wie ganz selbstverständlich einen Pornofilm anschaut und nicht vorgibt, dies nur aus wissenschaftlichem Interesse zu tun - also: Schon beim Eintreten fühlt sich der Käufer auf der sicheren Seite. Fast alles ist so wie er es gewohnt ist. Der Kaffee steht da, wo er immer steht. Wo sind die Unterschiede zum heimischen Aldi-MArkt? Ah! Da hat jemand den Wein anders plaziert. Wenigstens ein Unterschied.

 
Überhaupt gibt es hier in St. Remy viel Wein, aber das ist ja auch kein Wunder, denn ich bin ja in Frankreich. Dafür vermisse ich die verschiedenen Wurstsorten im Kühlregal. Es gibt nur Schinken, Salami und Pasteten. Und doch bleibe ich versöhnlich, denn die Schokolade ist genau da, wo sie sein soll. Ich schaue kurz durch das Regal und finde tatsächlich die Schokoladenkekse "Duo". Die haben auf ihrer Schokoladenseite aber den Eifelturm eingeprägt, nicht eine Burg wie in Deutschland üblich. Auch der Löwenriegel mit Karamel ist exakt an dem Platz, wo er hingehört. Ja, wir Deutschen verstehen eben etwas von OIrdnung.

Im Regal gegenüber lernt man, dass Erdnüsse zwar auch in Frankreich wie Erdnüsse aussehen, dafür aber hier "Cacahuettes" heißen. Und man sieht Oliven mit Paprikafüllung und ... ich kann es kaum glauben ... Oliven mit Anchauvi-Füllung. Was wieder einmal beweist, dass jeder Franzose an sich ein Gourmet ist.

Ein paar Produkte haben es sogar von Frankreich aus in deutsche Regale geschafft, wie zum Beispiel der Frischkäse "Lys", mit Kräutern, Walnüssen oder Pfefferinhalt. Die Schokolade jedoch - sie verzeihen mir bitte, dass ich dies gerade vergessen hatte, zu erwähnen - kommt nicht, wie in Deutschland, aus Niebüll oder anderen grenznahen Bereichen. Um es präziser zu sagen: in Frankreichs Aldi kommt die Schokolade aus der Schweiz!

Ich schaue mich um. Neben mir lädt eine offensichtlich allein erziehende Mutter mit ihrem drei- bis vierjährigen Sohn den Einkaufswagen kunstfertig so voll, dass sie später an der Kasse 1 ½ Transportbänder braucht um alles wieder zum Bezahlen zu plazieren. Ihr Sohn beherrscht neben seinem üblichen Wortschatz vor allem das Wort "Mamam", das er bis zu zwanzig Mal in der Minute aufsagen kann. Vor allem aus diesem Grund denke ich, dass sie allein erziehend war, denn ein Vater hätte es kaum mit diesem Energiebündel ausgehalten.

Der junge Mann turnt an den Regalen umher, wie einst Lord Greystoke im Dschungel Afrikas, benutzt die letzte Verkaufsmöglichkeit vor der Kasse als Reck, spielt Hütchen mit Waschmittelpackungen und gewinnt natürlich immer- Außerdem nimmt er "Mamam" ein wenig von deren Arbeit ab und beläd den Einkaufswagen schon wieder, bevor die überhaupt bezahlen durfte. "Mamam" und die Kassiererin sind gnädig und lachen gemeinsam über den kleinen Franzosen. Dann holt "Mamam" eine Kreditkarte aus dem Portemonnaie und zahlt damit. Ich muss es zugeben: Bei Aldi In Deutschland ist man da noch nicht soweit; es wird aber bald soweit kommen.

Denn die Aldipreise sind unschlagbar niedrig, auch in St. Remy. Selbst der benachbarte "Carrefour"-Markt kommt nicht annähernd an den Discounter ran und "Monoprix" ist sowieso zu teuer. Ich habe inzwischen feststellen dürfen, dass "Monoprix" ohnehin nichts ist, für den kostenbewußten Franzosen oder sein weibliches Pendant. Hier kaufen die Patrioten und Veteranen ein, die niemals dem Erzfeind (und dessen braunen Kacheln) zum nachträglichen Sieg verhelfen würden.

Ganz im Gegenteil zu den allein erziehenden Müttern. Für die sind nämlich 15 Euro immer noch 15 Euro und für diese 15 Euro bekommen sie bei Aldi in St. Remy eine ganze Menge. Vielleicht sogar einmal einen neuen Vater für den Sohn. Falls Aldi irgendwann einmal Männer an die Kasse lässt.

Losung am 29. Juli

"Aldi gehört einfach zu Deutschland dazu."
(Roberto Zerquera Blanco in der "BILD")

Samstag, 28. Juli 2012

Sonntag 2002-07-28 | DIE KUNST UND DAS RAUCHEN

Der vierte Tag: Chalon-sur-Saône

Meine Kenntnis der Französischen Sprache ist nicht gut, jedenfalls nicht so gut, wie es hätte sein können, wenn man vier Jahre lang seine Französischlehrerin geliebt hat vor vielen Jahren, als man(n) noch nicht richtig wußte, was Liebe heißt. Die war aber in einen anderen verliebt und zwar in den Rektor meiner damaligen Schule. Platonisch war diese Liebe wohl nicht ganz gewesen und zu Beginn der 70ger Jahre aus disziplinarischer Sicht auch nicht ganz korrekt. Jedenfalls wurde meine Französischlehrerin versetzt, ich ebenso, aber an ganz verschiedene Orte. Zur Ehrenrettung der emanzipierten Frau sei hier grundsätzlich gesagt, dass auch den Rektor versetzt wurde. Und wenn beide nicht gestorben sind und ihre Liebe etwas Großes war, dann sind beide auch später noch zusammen gewesen, wenngleich auch an getrennten Schulen.

Jedenfalls höre ich im Radio, dass „...la censure italiene veut priver Bogart de sa cigarette...“. Wie bitte, der Franzose will Privet-Eye Humphrey seine ‚...cigarette...‘ nehmen, oder gar mit einem schwarzen Balken überblenden. Das macht neugierig und ich versuche weiter, verständlichen Passagen im Radio zu lauschen. „Le ministre italien...“ –aha immerhin nicht die Nachfahren von Kettenrauchern wie Brel oder Chevallier; hätte man sich eigentlich auch denken können- plant ein „..banissement total de la cigarette à la télévision...“. Unglaublich. Erstens ist die Cinematographie immer Kunst, manchmal zugegebenermaßen schlechte - aber immerhin, und Kunst kann man nicht zensieren, und zum anderen: Wo soll das denn enden?

Was ist mit den Morris(!)-Comics von Lucky Luke, der eine Zigarette schneller raucht, als die Daltons eine Bank ausrauben. Das sehen die Franzosen ganz anders: ‚Vive le cigarette‘, das -natürlich männliche- Symbol der Freiheit. Lange bevor es Marlboro gab, wahrscheinlich sogar schon zur Französischen Revolution 1889, machten sich der Franzose (und natürlich auch seine Heroine) Mut mit der Glut einer letzten Gauloise oder regte sich beim Rauchen einer ‚cigarette‘ ab, nicht nur nach der Liebe, aber im besonderen, denn vorher hätte der Nikotingeschmack im Mund wahrscheinlich gestört.


Sicher macht eine Kampagne zum Nichtrauchen Sinn, wenn man sie mit den Zeitgeist koppelt und, wie geschehen, Sportler und Musiker „No“, „Niente“, „Non“ oder „Nein“ sagen lässt um dem Zuschauer nachher zu erklären, dass es um das Rauchen geht. Die Italiener aber sind gleich sehr emotional und wollen alles beim Stumpf ausreisen. Wäre Deutschland gefragt worden, wir hätten wahrscheinlich eine Quote ins Gespräch gebracht, eine Quote von, sagen wir einmal, 6,5 % an Filmen mit Zigarettengenuss, die im Fernsehen noch gezeigt werden dürfen. Und die nötige Kontrolltruppe, entschuldigen sie, ich meine natürlich: die ‚Bundeskontrollstelle für Zigarettengenuss im Deutschen Fernsehen/BZDF‘, hätte gleich mit auf den Weg gegeben. Der DGB hätte langzeitarbeitslose Ex-Raucher zur Besetzung der Stellen gefordert, wegen deren Basiswissen und die CDU mittelständliche Kioskbetreiber, die unter dem allgemeinen Verdruss am Zigarettenmarkt zu leiden haben und dies mit einer Nebentätigkeit kompensieren könnten. Die SPD hätte, nachdem die FDP hierzu ihre Unterstützung zugesagt hätte, Interessenkonflikte bei deutschen Kioskbetreibern vermutet und statt dessen indische Kettenraucher empfohlen. Und die PDS hätte selbstverständlich einen Untersuchungsauschuss gefordert. Aber zum Glück kam der Vorschlag ja aus Italien.

An die Adresse der Italiener sei gesagt, und das weiss ja nun jeder: Es gibt auch eine Zigarettenmaffia. Und das sind alles Cineasten, jedenfalls, wenn es um Filme mit Humphrey Bogart und seiner unverwechselbaren Zigarette im Mundwinkel geht. Die europäische Lösung ist aus meiner Sicht unverzichtbar; nationale Alleingänge bringen da überhaupt nichts. Ich könnte mir Folgendes vorstellen: Während des Filmes wird als Laufschrift mehrfach eingeblendet (Nein, nicht „...wegen der Überlänge der Sportübertragung verschiebt sich der Film: ‚Neues über die Fauna der Bäreninsel‘...“ sondern) „Warnung! Dieser Film enthält Szenen, die sensible Gemüter verletzen oder gefährden könnten. Der Genuss dieses Filmes kann durchaus gesundheitliche Schäden verursachen! - Die Europäischen Gesundeitsminister.

Losung am 28. Juli

"It's easy to quit smoking. I've done it hundreds of times."

"Mit dem Rauchen aufzuhören ist kinderleicht.
Ich habe es schon hunderte Male geschafft."
(Samuel Langhorne Clemens aka Mark Twain)

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Sonntag 2002-07-28 | NACHTRAG

Es ist ein herrlicher Sonnentag in Auvers, als der Amateurmaler und Arzt Paul Gachet einem Verrückten, dem er gerade vor wenigen Wochen die Technik des Radierens beigebracht hatte, attestieren muss, dass dieser seine Verletzungen, die er sich selbst durch einen Schuß in die Brust beigefügt hatte, nicht wird überleben können. Interessant dabei ist, dass der Mann, der sich in die Brust geschossen hatte, im Jahre 1886 in Paris beim Kunststudium aus einer Laune heraus einen Totenschädel mit einer brennenden Zigarette im Mundwinkel gemalt hatte.

Freitag, 27. Juli 2012

Samstag 2002-07-27 | ANLEITUNG ZUM GLÜCKLICHSEIN

Der dritte Tag: Chalon-sur-Saône

In Chalon-sur-Saône bedarf es nur weniger Dinge um glücklich zu sein - zumindest wenn man von auswärts kommt und Chalon als Gast erlebt - und man erhält sie auf dem Weg durch die Stadt beim Einkauf (falls man etwas vergessen haben sollte, dann kann man dies in Chalon selbstverständlich auch sonntags einkaufen).

Wer es nach prüfen will, dem sei hier die (Einkaufs-)Liste zum Glücklichsein verraten:

a) Gutes Wetter - soll heißen: etwa 29°C und wolkenloser Himmel mit leichtem Wind

b) ein Baguette (bei Verständigungsschwierigkeiten können es auch leicht zwei oder drei werden)

c) Musik von "Le Jours de Fete" mit ihrer "Hommage à Jaques Tati" (leider nur auf CD erhältlich - wenn überhaupt!)

d) leicht gesalzene Butter, die in Frankreich 'Beurre demi-sel' heißt

e) eine Flasche "Cotes du Roussillon Villages" (obwohl man als Kurzzeit-Lokalpatriot auch einen Wein der Region wählen könnte)

f) ein Glas für eben diesen Wein und

g) ein weiteres Glas für Tafelwasser; beide etwa 3/4tel gefüllt

h) ein scharfes Messer (Anmerkung: sehr scharf ... und damit gerade richtig für

i) ein etwa 200g wiegendes Stück 'Saucisson sec pur Porc' und zwar möglichst abgehangen und deshalb möglichst hart und teuer (weswegen man das sehr scharfe Messer benötigt; man wird mir diesen Tipp noch danken!)

j) die obligatorische Schachtel "Gitanes" (... bitte niemals solche mit Filter!)

k) eine schattige Hecke am Ufer der Saône, sowie

l) jede Menge Zeit um der Musik zu lauschen und den vorbeifahrenden Lastkähnen und Wasserbobs.

Da können in der Ukraine so viele Menschen bei einer Luftfahrtschau umkommen - hier und heute und jetzt ist man glücklich. Und es reift eine Art Erkenntnis. Später, wenn man alt ist und an sein Leben zurück denkt, dann wird man sich möglicherweise an diesen Nachmittag erinnern und feststellen: Damals am Ufer ... das war vielleicht wirklich ICH. Und dann hat man diesen Moment des Glücklichseins über die Jahre konserviert gehalten.

Ich denke, diese Sache sollt das Ganze durchaus wert ist. Was mich zu einer Geschichte führt, die hier erzählt werden soll. Es ist eine Geschichte aus dem Zyklus "Terra Pi / Pi’s Welt". Es ist mir heute fern, zu wissen ob es mein Herr Pi bis zu dem Zeitpunkt, an welchem Sie diese Zeilen hier lesen, zu einer größeren Bekanntheit gebracht hat, so dass man seine Vorgeschichte nicht mehr zu erzählen braucht, aber ich gehe dieses Risiko ein.

Soviel sei verraten: Pi lebt in einer zukünftigen Welt, schafft es nicht, sich ihr anzupassen und denkt sich deshalb seine eigene Welt zurecht. Es folgt ...



WIE PI VIER TAGE VOM TEUFEL HEIMGESUCHT WURDE
(... UND WAS ER DABEI ÜBER SEIN LEBEN LERNTE)

Am ersten Tag, an dem Pi vom Teufel heimgesucht wurde, bemerkte er dies erst gar nicht. Pi hatte Heidelbeermarmelade gekauft. "Mit 60 % echten Heidelbeeren" stand auf dem Etikett. Echte Heidelbeeren gehörten zu Pi‘s Leibspeise. Als kleiner Junge hatte er von fast allen Heidelbeerfeldern Dänemarks Früchte gekostet. Blaubeeren hatte sein Vater sie damals genannt. Jetzt, wo er selbst schon ein Vater war, nannte er sie bei ihrem richtigen Namen, weil er sich stets bemühte immer alles beim richtigen Namen zu benennen.

Heute war er zum "MonoMart" gegangen und hatte nach Marmelade angestanden. Als er endlich ans Regal heran kam, waren dort wie immer drei verschieden Sorten Marmelade vorrätig. Echte Erdbeere, das war obligatorisch und echter Pfirsich auch. Aber die dritte Sorte, die variierte jedes Mal. Doch heute war es Heidelbeermarmelade gewesen. Und es war nur noch eine einzige Dose im Regal - Pi griff sofort zu.

Als er in seinem Appartement nahe dem Capitol war, machte er sofort die Marmeladendose auf. Es roch zumindest sofort naturidentisch nach Heidelbeeren. Er nahm seinen Löffel und kostete. Herrlich! Heidelbeeren: der Kaviar der Dünen. Er konnte jede einzelne Beere herausschmecken. Wo kommen eigentlich heute noch so viele Heidelbeeren her, dachte Pi. Aus Smalland bestimmt nicht mehr. Vielleicht gibt es im Wald bei Hvidesande noch genügend Heidelbeerbüsche. Aber dann rrunzelte Pi seine Stirn und die Falten sendeten ihm eine neue Frage in sein Gehirn. wer sagt mir eigentlich, dachte sich Pi, dass die Heidelbeeren in meiner Dose überhaupt aus Europa kommen? Vielleicht ommen sie auch aus Brasilien, wie so viele Dinge heutzutage. Nun war Pi alles klar: Bestimmt haben die dort wieder jede Menge Regenwald zerstört, nur um jetzt dort Heidelbeeren anzupflanzen, sagte er sich. Pi stellte die Dose in seine Kühlbox. Mit einem Mal hatte die Lust an seinen Heidelbeeren verloren. 

Das war der erste Tag, an dem ihn der Teufel heimsuchte und, wie schon gesagt: Pi bemerkte es nicht einmal. 

Am zweiten Tag, an dem Pi vom Teufel heimgesucht wurde, wollte er drei Briefe schreiben. An seine Kusine, seine Tochter und an den Belgier. Das Briefpapier hatte er schon bereit gelegt, aber nun suchte er seinen Füller. Am Morgen hatte Pi noch eine Tintenzeichnung gemacht und auf der Rückseite Titel, Tag und Ort vermerkt. Danach hatte er den Füller in die schwarze Hülle aus weichem Leder gesteckt, den roten Kugelschreiber dazugetan und das Etui dann weggelegt. Wo hatte er es hingetan? Pi war am Verzweifeln. Es konnte doch nicht mit einem Mal weg sein. Niemand außer ihm wußte, dass er Briefe nur mit diesen einen Füller schreiben konnte. Natürlich hatte er hunderte anderer Schreibgeräte, aber hunderte anderer Schreibgeräte nutzten ihm wenig, wenn er seine Briefe nur mit diesem einen Füller schreiben konnte. Denn es war ja nicht nur dieser eine Füller, der seine Art des Schreibens ausmachte. Es war auch die Tinte im Füller. Permanenttinte. Die bekam man nur in ausgewählten Schreibwarengeschäften. In ganz Europa gab es seines Wissens nach nur zwölf dieser Dependancen, in denen man Permanenttinte in schwarz-blau zu kaufen bekam. Weiß der Teufel, wo die diese Tinte überhaupt noch herstellen ud weshalb so wenig. - Weiß ... der Teufel?

Pi blickte auf. Konnte der Teufel etwas mit dem Verschwinden seines swarzen Lackfüllers zu tun haben? Zwei Stunden hatte er nun schon gesucht. Kein einziges Wort war bisher geschrieben. Gestern erst die Sache mit der Blaubeermarmelade, nein, der Heidelbeermarmelade. Und heute dies. Pi hielt es jetzt zumindest für möglich, dass der Teufel ihn ausgewählt hatte um ihn zu prüfen.

Doch war es nicht eigentlich Gott, der einen Menschen auswählte um ihn durch den Teufel einer Prüfung auszusetzen? Egal, dachte Pi und suchte weiter nach dem Füller. Noch hatte er Zeit; es war Samstag und die Post würde erst am Montag aufmachen. Aber es war wie verhext..., "Entschuldigung", sagte Pi laut. Nicht verhext: verteufelt! Nirgends waren der Füller, das Etui oder der rote Kugelschreiber zu entdecken. Pi suchte noch den ganzen restlichen Tag und den Abend und doch war in seinem Appartement keine Spur der verschwundenen Gegenstände zu entdecken.

Das war der zweite Tag, an dem ihn der Teufel heimsuchte und Pi ahnte dies schon.

Am dritten Tag, als ihn der Teufel heimsuchte, wachte Pi bereits um vier morgens Uhr auf. Nein, dachte er sich, ich werde dem teufel, falls er an dieser Sache beteiligt ist, den Gefallen nciht machen und sofort nach dem Füller suchen. Ich werde still liegen beiben bis zum Frühstück und erst nach dem Frühstück mit der Suche beginnen. Vielleicht könnte sich Pi ja auch einen neuen Füller kaufen, dachte er sich. Einmal hatte das schon geklappt. Sein alter Füller war unbrauchbar geworden und er fand tatsächlich seinen echten scharz-lackierten Parker Füller mit den goldenen Applikationen noch einmal. Der gleiche Typ, die gleiche Feder, das gleiche Aussehen. Nur die Kappe war etwas anders, aber das war nun wirklich kein Problem für Pi, denn er hatte ja noch die Kappe seines alten Füllers.

Pi stand auf und suchte sein Geld. Er bewahrte Geld und Kreditkarten immer in einem Brustbeutel auf. Gestern Abend hatte er diesen ausgezogen und in seine Schlafecke gelegt. Jetzt war auch der Brustbeutel weg. Wie vom Erdboden verschluckt.

Aha, sagte sich Pi, schon der Dritte Tag, an dem etwas ungewöhnliches passiert. Holla Teufel! Was hast Du mit mir vor? Holla Gott! Warum wirft Du seit Tagen für mich Bananenschalen aus? Womit habe ich die Ehre der beiden Herren verdient, dachte sich Pi.

Den restlichen Tag suchte Pi sein gesamtes Appartement ab. Groß war es nicht, nur 25 Quadratmeter und deshalb hätte er die gesuchten gegenstände doch schon lange finden müssen. Jetzt tat ihm auch noch der linke Arm weh; genauer gesagt der kleine Finger an der Hand des linken Armes. War dies eine weitere Prüfung Gottes oder des teufels für ihn oder was hatte das jetzt mit der Angelegenheit zu tun?

Das war der dritte Tag, an dem Pi der Teufel heimsuchte und jetzt war er sich sicher, dass es so war.

Am vierten Tag, an dem Pi vom Teufel heimgesucht wurde, waren plötzlich nach dem Aufwachen alle verschwundenen Dinge wieder da. Dafür waren seine gesamten Lebensmittel verdorben. Gestern Abend hatte Pi die Kühlbox ordnungsgemäß verschlossen, aber als er am Morgen zu ihr ging, um sich die Dose mit der Blaubeermarmelade zu nehmen und wieder ein wening zu kosten, stand die Tür der Kühlbox offen. Einen Spalt nur, aber genug, damit die gesamte Kühlbox warm werden konnte. Das Thermometer in ihr zeigte 24 Grad Celsius.

Pi verschloß die Tür, aber als es nach einer Stunde wieder öffnete, waren es in der Kühlbox 31 Grad Celsius geworden. Kein Zweifel: Die Kühlanlage der Box war in der Nacht heißgelaufen, war kaputt gegangen und nun heizte sie anstatt zu kühlen. Pi blieb nichts anderes übrig als über das Datennetz eine neue Kühlbox zu bestellen. Seine neue Kühlbox kostete fast ein Drittel mehr als die alte, die er erst vor vier Monaten gekauft hatte. Aber die hatte ja auch nur drei Monate Garantie gehabt.

Kurz vor Sonnenuntergang wurde ihm von TOI die neue Kühlbox geliefert. Pi amüsierte sich über den Namen der japanischen Herstellerfirma: TOI. Die kannte er sonst nur von den öffentlichen Toilettenanlagen. Da sagte man sich schon einmal "Toi, toi, toi"‘, wenn man sie betrat, denn es kam hin und wieder vor, dass sie anfingen, sich selbst zu reinigen, während der Kunde noch darauf saß und sein geschäft erledigte. Aha, dachte sich Pi, die stellen inzwischen auch Kühlboxen her. Als der Netzlieferant gegangen war, ließ er sich von der Kühlbox die Bedienungsanleitung vorlesen und laß zur Sicherheit auf dem, an der Vorderseite der Kühlbox angerachtem Display, mit. Die benutzung war ja gar nicht so kompliziert, wie er dachte und im Nu hatte er sich durch die verschiedenen Menus der Kühlbox navigiert. Als ihm der letzte Satz vorgelesen wurde, blickte Pi wie erstarrt auf das Display. "Wir wünschen Ihnen viel Spaß mit ihrem neuen Kühlbox-System "TOI FL", sagte die Stimme der Kühlbox. In diesem Moment wurde Pi so einiges klar.

Nicht nur, warum die TOI-WC-Anlagen so oft ein Eigenleben entfalteten. Auch warum seine ganze Misere mit einer Dose echter Heidelbeeren angefangen hatte: die letzte Dose, die verführerisch in einem Kühlregal gestanden hatte, dass, da brauchte Pi gar nicht mehr nachzuprüfen, wohl auch vom TOI-Konzern hergestellt worden war. Dann die Sache mit dem Füller und dem Brustbeutel, die ein einem feigen Mord an seinen Lebensmitteln endete.

Der Teufel hat heutzutage nun mal ganz andere Methoden als noch vor 500 Jahren. Damals mußte Belzebub in Jungfer Nellifer einfahren, die er dann vier Nächte lang nackt um eine Buche tanzen ließ. Heute, dass wusste Pi nun, legt der Teufel Wert auf die Details, je er steckt manchmal sogar darin, und arbeitet mit tiefenpsychologischen Tricks. Und bei ihm, Pi, waren es die Erinnerungen an Heidelbeeren gwesen, die Idee, diese besser in der Kühlbox aufzubewahren anstatt sie gleich auzuessen, dann die Behinderung des Briefeschreibens und schließlich die Verhinderung unnötiger Geldausgaben, weil er ja kurz darauf die neue Kühlbox "TOI FL" kaufen sollte. Schließlich kappte der Teufel auch noch die Lebenserhaltungsysteme seiner alten Kühlbox. Alles passte zusammen.

Pi war sich sicher, dass der Teufel ihn so sehr manipuliert hatte, dass er für alles selbst verantwortlich war. Deshalb brauchte er sich auch das Nachtvideo, auf dem zu sehen war, wer die Tür der Kühlbox wirklich geöffnet hatte, erst gar nicht anzuschauen. Er selbst war es gewesen, war alles gewesen. Der Teufel dagegen war reingewaschen, hatte ein millionenfaches Alibi in den öffentlichen WC-Anlagen dieser Welt. Ihn brauchte Pi also erst gar nicht zu verdächtigen.

So etwas passiert wahrscheinlich jede Minute und überall in meiner Welt, dachte sich Pi und wußte, dass es schwer sein würde "TerraPi" zu ändern.

Losung am 27. Juli

"Mancher Mensch hat ein großes Feuer in seiner Seele,
und niemand kommt, um sich daran zu wärmen."
(Vincent van Gogh)

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Samstag 2002-07-27 | NACHTRAG

Es sei noch kurz vermeldet, dass sich heute vor 112 Jahren, kaum 150 km von Chalon-sur-Saône entfernt, ein Mann mit einem Gewehr in die Brust geschossen hat.

Donnerstag, 26. Juli 2012

Freitag 2002-07-26 | EUROPÄISCHE MENTALITÄTEN

Der zweite Tag: Baden-Baden/Offenburg/Mulhouse/Besancon/Beaunne/Chalon-sur-Saône

Geboren wurde ich in Offenbach am Main. Kurioserweise liegt zwischen Baden-Baden und meinem für heute geplanten Übertritt auf französisches Territorium das Städtchen Offenburg, in Deutschland vor allem bekannt durch seine Beherbergung des BURDA-Verlages. Etwa halb so viele Einwohner wie Offenbach am Main hat es. Die Unterschiede zwischen Offenbach und Offenburg wecken mein Interesse. 'Meyers Handlexikon Band 2 -Lb bis Z-' im Jahre 1977 in der Deutschen Demokratischen Republik gedruckt und von mir kurz vor der Reise günstig in einem Antiquariat erstanden ('Band 1: -A bis La-' wird von mir zwar schmerzlich vermisst, aber da ich es nicht ändern kann, muss ich sozusagen mit der Halb-Welt auskommen und werde wohl niemals erfahren, was ein Lama wirklich ist: südamerikanisches Nutztier oder tibetischer Religionsführer), kennt zwar Offenbach am Main, verschweigt dem Leser jedoch, dass es auch ein Offenburg gibt.

Dafür gibt es auf meiner Autobahn eine 'Offenburg' betitelte Abfahrt, die ich am zweiten Tag meiner Reise bereits gegen acht Uhr morgens nutze. Dabei bewegt mich die Frage: Wieso durfte der gelernte DDR-Bürger nicht wissen, dass es Offenburg gibt? Und warum sind sonst selbst winzige Flecken in Meyers Handlexikon verzeichnet, deren Namen ich hier gar nicht wiedergeben kann oder will. Gut Nowosvetlonsk wird (aus Gründen, die sich im späteren Ablauf dieses Büchleins noch zeigen werden) ebenfalls nicht erwähnt, dafür aber immerhin Noworossijsk ... aber darum soll es ja eigentlich nicht gehen.

Offenburg zeichnet sich zu aller erst dadurch aus, dass ein Wasser durch die Stadt läuft; dies spielerisch kultiviert in kleinen aber feinen Rinnsalen. Außerdem ist die Innenstadt voller Skulpturen. Fast alle sind beweglich, ihre Glieder sind drehbar und das bereitet vor allem den Kindern großen Spaß. Vor einem Schreibwarengeschäft gibt es als Sonderangebot kleine Notiz-Kladden für einen Euro das Stück. Acht dieser Notizbücher legte ich an der Kasse auf den Tresen und man will mir 36 Euro dafür berechnen. Ich frage nach. „Oh! Entschuldigen Sie“ sagt die Dame „die sind ja reduziert worden“. Nun möchte sie 16 Euro von mir haben. Man merkt, dass der Schwabe an sich ein Mensch ist, dem das Geld lieb und teuer geworden ist. Ich amüsiere mich und zahle gerne meine 16 Euro: acht Euro für die Kladden und acht Euro Gage. Und dann kommt mir der Gedanke des Tages: Der Euro hat vielleicht nicht nur etwas mit Europa zu tun sondern auch mit europäischen Mentalitäten.

Um die Mittagszeit fahre ich wieder auf die Autobahn. Richtung Basel geht es und dann auf der Autoroute (nebst eigenem Radioprogramm auf UKW 107,7 Mhz) nach Chalon-sur-Saône, dort wo Frankreich am französischsten ist und ein Campingplatz so nah am Herzen der Stadt liegen soll, dass man es fast schlagen hört.


Da meine Tochter mich vor der Abfahrt fragte, was denn alles so in Chalon passiert ist, warum dieser Ort so wichtig sei, dass ich ihn anfahre - sie wisse doch, dass ich nur Orte und Landschaften aufsuchen würde, an denen irgend etwas geschehen ist oder mit denen etwas verbunden wird, was für Europa bedeutend ist, sagte sie. Deshalb sage ich es auch hier zur einfachen Erklärung: Chalon ist in erster Linie mein Ziel, weil es zentral auf meiner Reiseroute des Monats Juli liegt. Das französische Herz, hatte ich ja bereis erwähnt. Bleibt als drittes Argument pro Chalon-sur-Saône , dass man 'Saône' wie 'Sonne' ausspricht. Wer könnte also einer solchen Stadt widerstehen?

Und noch einen weiteren Grund kann ich bieten: In Chalon wurde 1765 Joseph Nicéphore Niepce geboren. Der Name sagt Ihnen nichts? Es ist der Mensch, welcher 1822 die ersten Photographien herstellte. Doch es erging ihm wie Cristóbal Colómbus und dem von ihm entdeckten Erdteil, der später aufgrund des Irrtums des deutschen Kartographen Martin Waltzemüller nach dem Vornamen des italienischer Seefahrers Amerigo Vespucci genannt wurde und so, Vespucci ebenso wie Waltzemüller unsterblich machte.

Europäer sorgten also schon immer für Verwirrung und deshalb ist es kein Wunder, dass die Erfindung des Photoapparates für immer mit dem Namen eines anderen Franzosen verbunden wird, Monsieur Daguerre, der erst sechs Jahre nach Joseph Nicéphores Tod dessen Fototechnik weiterentwickeln konnte. Monsieur Niepces postmortaler Bescheidenheit zum Trotz und seiner Erfindung zu Ehren hat man ihm in Chalon-sur-Saône ein großes Museum gewidmet. Es ist Freitag, später Nachmittag, als ich auf dem Campingplatz in Saint-Marcel am Ufer der Saône einchecke, den zugewiesenen Stellplatz finde, mein Zelt aufbaue und auf Chalon blicke.

Schnell vor Sonnenuntergang noch in die Stadt und ein Baguette geholt. Das ist kein Problem, denke ich, bestelle es und erhalte zwei. Ich wiederhole noch einmal, dass ich EIN Baguette haben möchte. Die nette Verkäuferin nickt, versucht meinen Fingerzeig richtig zu deuten ... und legt noch eines drauf. Bezahlt wird in Euro, der Einheitswährung; die Einheitssprache wurde dagegen noch nicht gefunden. Dafür habe ich nun zumindest genug Brotreserven für meine weitere Reise.

Losung am 26. Juli

"Quand tu veux construire un bateau,
ne commence pas par rassembler du bois,
couper des planches et distribuer du travail,
mais reveille au sein des hommes le desir de la mer grande et large."

"Wenn Du ein Schiff bauen willst,
so beginne nicht damit Holz zu sammeln,
Bretter zuzuschneiden oder Arbeiten zu verteilen,
 sondern erwecke den Menschen die Sehnsucht nach dem großen, weiten Meer."
(Antoine de Saint-Exupéry, genannt 'Saint-Ex')

Mittwoch, 25. Juli 2012

Donnerstag 2002-07-25 | BAYREUTH . / . BEIRUT?

Der erste Tag: Jena/Bayreuth/Stuttgart/Baden-Baden

Abreise ist um 13 Uhr, doch schon gegen 15 Uhr steige ich in Bayreuth wieder aus dem Auto. Warum so schnell eine erste Pause? Es ist im Grunde ganz einfach: Weil hier und heute die Wagnerschen Passionsspiele beginnen.

Hier ist der Ort, hier ist die Zeit. Und die scheint stehen geblieben, seit dem der Meister persönlich vor mehr als 125 Jahren auf dem Festspielhügel die Wurzeln für ein grunddeutsches Missverständnis legte. Nirgendwo auf dieser Erde treffen so viele Menschen aufeinander, die sich dem Kulturerbe als notwendigem Übel hingeben und sich dabei selbst inszenieren. Wer Wagner ist, warum er war wie er war und was er wollte - wen interessiert das hier, jetzt und in Bayreuth schon? Entscheidend ist die Tatsache, dass jedes Jahr etwa 600.000 Menschen den Passionsspielen beiwohnen wollen aber nur 60.000 hereingelassen werden. Hier und jetzt und in Bayreuth überhaupt ist ‚...dabei sein...‘ wirklich einmal ALLES. „Ich bin dabei, Du bist dabei und er/sie/es sind draußen geblieben. Wie schade! - Sag mal, wie lange geht der Ring heute? Weil wir gerade beim Ring sind: Mein Mann hat sich diesmal, wieder mal, nicht lumpen lassen. 20.000 hat mein neuer Ring gekostet. Hatte ich Dir davon schon erzählt?...“

Was hier zählt ist Geld und Macht und Rock’n’Roll, letzteres ausschließlich bezogen auf die Kleider und die von Ihnen zu kaschierenden Essensreste an den Hüften. Die Männer dagegen spielen in Bayreuth ganz andere Rollen. Da ist zum Beispiel der Parteichef, unverkennbar in Siegfried-Manier, hinter ihm steht im Sommer-Loch schon Hagen und schmiedet gar böse Pläne. Und dort ist auch Tristan, der Isolde gerade an einen Wurstfabrikanten verloren hat und sehnlichst auf eine neue Gespielin wartet. Ah, da hinten kommt Parsifal, der gute Ritter, dem in ein paar Wochen seine Flugaffären (oder waren es unerlaubte Hilfsmittel zur Leistungssteigerung?) zum Verhängnis zu werden drohen. Seine Rüstung - noch glänzt sie im Sonnenlicht - hat er da dringend nötig, mehr als jemals zuvor in seinem Leben. Wo ist denn? Ja, da ist er ja! In der Ecke sieht man Gunther; keiner hat ihn eingeladen, aber einer wie er, kommt doch immer irgendwie rein. Und wenn es nicht auf die sanfte Tour geht, dann geht es eben anders. An Gunther kommt niemand vorbei. Höchstens Tannhäuser. - Wie bitte...Tannhäuser? - Helmuth Tannhäuser, natürlich. Äh, Tann... - Jetzt sagen Sie bloß, Sie kennen den neuen Staatsminister im auswärtigen Amt noch nicht?

 

Deswegen kommen sie doch alle nach Bayreuth. Wer interessiert sich von der Mehrzahl der Besucher schon wirklich für Wagner? Die Musik ist ein Marathonlauf, die Aufführung langweilig und die Inszenierung versteht sowieso keiner der Anwesenden wirklich. Sado-Masochismus in Rheingoldkultur sozusagen. Und dann erst die Familie Wagner höchstselbst. Natürlich verwundert es nicht, dass die Nachfahren und -fahrerinnen des Meisters die Intrigödie zu ihrem Lebenselixier werden ließen. Wer schon jede Menge Kultur im Blut hat, der darf sich (sozusagen als Ausgleich) auch so richtig daneben benehmen. Kinder, Enkel, Urenkelinnen, UrUrUrUrsöhne und -töchter gibt es ja genug.

Hier in Bayreuth erkennt man auch, warum TV-Serien wie 'Dallas' und die 'Schwarzwaldklinik' eingestellt werden mussten. Nein, nicht, weil der Stoff für Drehbücher ausgegangen war oder das Interesse des Publikums nachgelassen hätte. Alles Quatsch. Man konnte die Tantiemen nach Bayreuth nicht mehr bezahlen, wo alles, was im Fernsehen in Seifenopern gezeigt wurde, zuerst passierte. Was hier tagtäglich an Urheberrechten produziert wird, entspricht durchaus Richards Geniequote. ‚Die Wagners‘ und ‚Die Wagners schlagen zurück‘, ‚Wagners Eben‘, ‚Die Wagners in Bayreuth‘ und ‚Die Rückkehr der Wagners‘; klassische Filmthemen mit absoluter weltweiter Erfolgsgarantie. Krieg der Titanen und Walküren als Kult-Urerbe. Bayreuth/Beirut? Der Franzose spricht es sogar schon richtig aus: Beyrouth.

Der Vergleich scheint auf den ersten Blick nicht zu funktionieren, denn im Libanon sterben oder starben echte Menschen. Traurig genug. Aber in Bayreuth weiß man vorher, dass alles ein Spiel ist; jedermann weiß das. Und in einem Wagner-Spiel, da sterben anstelle der echten Menschen stellvertretend die Protagonisten. Und am Ende der Tragödie stehen sie alle wieder auf, verneigen sich vor dem Publikum und treten ab. Nach 37 Vorhängen. DAS ist die wahre Kunst.

Deshalb führt mich meine Reise am ersten Tag als erste Station nach Bayreuth. Nicht dass ich wirklich bei der Eröffnung der 91. Richard-Wagner-Festspiele dabei sein möchte. Es geschieht alles sozusagen solidarisch. Ich bin präsent, dort wo ES passiert. Die kulturgeschwängerte Luft will ich einsaugen. Und möglichst schnell wieder auszuatmen. Denn sonst kostet es vielleicht noch etwas. Vielleicht eine Atemluftbenutzungsgebühr? Gerade erdacht im Kopf des Herrn Tannhäuser. Das wäre wirklich so verwunderlich nicht, da die 30 Veranstaltungen des Festspiele mit rund 5,2 Millionen Euro jährlich subventioniert werden. Das ist viel denken Sie? Weit gefehlt. Bayreuth ist hier mit nur 40 % Subventionierung fast schon ein Vorzeigeobjekt. Andernorts wird Oper und Theater mit bis zu 90 % gefördert. Daran sieht man wieder einmal, wie gut sich Kunst rechnet, wenn alle hinwollen und es einem Gnadenerlass des höchsten Gerichtes nahe kommt, eine Eintrittskarte ins Paradies zu erhalten. Und um mit Tucholsky zu enden: Ein Sitzplatz möchte es schon sein.

Zu gleicher Zeit, wenn es heute Abend in Bayreuth losgeht mit dem Rummel, bin ich schon wieder unterwegs und betreibe gerade Autobahnenforschung in Richtung Stuttgart. Gegen 22 Uhr folgt dann eine Übernachtung bei Baden-Baden im meinem eigenen "Hotel zum Stern". Und morgen geht es dann weiter nach Frankreich. Ganz gemächlich. Mit einer kleinen Zwischenstation in einer Stadt, die so ähnlich heißt wie meine Heimatstadt: Offenburg.

Losung am 25. Juli

"Der Blick über die Welt hinaus ist der einzige, der die Welt versteht."
(Richard Wagner)

Dienstag, 24. Juli 2012

VORGESCHICHTE

Ich kenne Menschen aus Europa, die haben trotz fortgeschrittenen Alters noch niemals den Ort, an dem sie geboren wurden, verlassen. Andere Menschen fliegen jedes Jahr mehrmals in ferne Länder, ohne die besonderen Dinge der Stadt oder Region zu kennen, in der sie ihr Leben verbringen. Und ich kenne Geschichten aus Europa. Die einen fliegen um die ganze Welt, die anderen, die sind ihrer Heimat treu geblieben.

Menschen und Geschichten - Geschichten und Menschen. Verborgen zwischen ihnen liegt ein Erdteil, der, obwohl er uns so vertraut erscheint, in vielerlei Hinsicht noch seiner Entdeckung harrt.

Oh Europa, was hast Du nicht schon alles erlebt in deiner Historie? - Nachlesen kann man es überall, wenn man denn will. Doch erleben, erfahren, erschauen, kann man Deine Menschen-Geschichten und Geschichten-Menschen nur, indem man dich durchstreift.

Im Sommer 2002 verfolgte mit einer Reise, die ich mit Auto, Zelt und Notebook bestritt, den Zweck, europäische Orte und Landschaften aufzusuchen, die mir aus verschiedensten Gründen interessant erschienen. Ich ging Personen und deren Erlebnissen nach, führte Bücher fort, die ich lange angefangen hatte, ließ mich treiben.

Die folgende Reisebeschreibung beschreibt 17 Tage aus Europas Geschichte zwischen Ende Juli und Anfang August.

Der Verfasser (...im August 2002)

Montag, 23. Juli 2012

Vorbemerkung zur 2012er-Ausgabe von "17 Tage Europa"

Vor genau 10 Jahren habe ich eine Reise durch Europa unternommen, vom Herzen Deutschlands bis nach Burgund, von der Mittelmeer-Küste bis an die Nordsee. Via IBM Labtop schrieb ich dabei jeden Tag meine Gedanken auf. Vom 25. Juli bis zum 11. August 2012 haben Sie die Chance, mir noch einmal über Bayreuth nach Verdun zu folgen, von Deutschland über Frankreich in die Niederlande und wieder zurück in das Herz von Deutschland und dabei auf Vincent van Gogh, Antoine de Saint-Exupéry und viele andere Europäer zu treffen.

Ich hoffe, dass Sie meine kleine Anleitung für einen besonderen Trip durch "17 Tage Europa" während der Olympischen Sommerspiele 2012 genießen werden.

Rainer Sauer, Jena (im August 2012)

PS: Teile dieser Reisebeschreibung finden sich auch in meinem Buch "Rocklegende" als Teil einer Mockumentary über den Musiker Charly Davidson (* 1957 / † 2008).