Freitag, 10. August 2012

Samstag 2002-08-10 | DIE WELT HAT MICH WIEDER, DOCH WAS HAT DIE WELT DAVON?

Der letzte Tag: Wertheim/Würzburg/Nürnberg/Bayreuth/Jena

Dauerregen - er regnet in Strömen. Ich bin kurz vor sechs Uhr aufgestanden und sitze jetzt, kaum dreißig Minuten später, in meinem Zeit bereits an meinem IBM Laptop und bereite mich darauf vor, eine kurze Bilanz zu ziehen, bevor ich heute Abend in Jena über die Reise berichten werde.

1.) Der Laptop war mir ein zuverlässiger Begleiter in den letzten siebzehn Tagen, manchmal vielleicht ein bißchen zu lässig, denn es gab keinerlei technische Probleme. Oder besser gesagt:  die Probleme, die HAL im Jahre 2001 verursacht hatte, macht der Buchstabenvetter IBM im Jahre 2002 nicht.

2.) Mit meinem Füller habe ich ebenfalls geschrieben, darunter auch Briefe an meine Nichte, da sie sich vor der Reise allgemein bei mir darüber beklagt hatte, dass sie so wenig Post von mir bekäme. Und jetzt hat sie drei Briefe von mir aus siebzehn Tagen Europa, mit drei verschiedenen Briefmarken darauf, alle mit Beträgen in Euro und doch alle unterschiedlich in Aussehen und dem jeweiligen Beförderungsbetrag - hier ist Europa also noch nicht zusammengewachsen. Auf mein Handy hat sie mir eine SMS geschickt, dass alle Briefe gut angekommen sind und ich rate ihr, diese Briefe gut aufzuheben, denn wer weiß, was sie später noch einmal wert sein könnten.

3.) Mein Handy war während meiner Reise fast immer aus gewesen. Hier gab es anfangs technische Probleme und später dann meinerseits ein klein wenig Angst vor zu hohen Verbindungskosten. Für später geborene Leser meines Reiseberichts kaum zu glauben: im Jahre 2002 gab es in Europa in jedem Land eigene Telefonanbieter und die raubten ausländische Telefonkunden aus, sobald diese ihr Handy benutzten. "Roaming" nannte sich das System und als reisender Europäer war man froh, hin und wieder noch auf das gute, alte Münztelefon zu treffen. - Sich bei der "Außenwelt" zu melden, während einer Reise, ist natürlich obligatorisch und ich tat es via Münz-Telefon, Brief, Postkarte, Reisegeschichte. Denn meine Reise ist bzw. war ja weder eine Flucht à la Goethe gewesen, noch Entdeckungsreise wie bei James Cook, sondern der Versuch, Dinge, Menschen, Landschaften ein klein wenig besser zu verstehen.

4.) Für meine direkten Familienmitglieder habe ich aus Frankreich, Deutschland und Holland Wurst und Pasteten, Käse und Wein, Meersand und einiges andere mitgebracht. Sie liegenin einer Kisten, die heute abend hoffentlich in froher Erwartung ausgepackt werden wird.

Fazit

Dante Alighieri erzählt in "Die göttliche Komödie" die Geschichte einer Reise des Verstandes und genau das waren meine "17 Tage Europa". Denn in einer Zeit, in welcher dem Menschen Teile seiner Kultur und Gesprächsführung abhanden gekommen zu sein scheinen, in der in vielen Medien Floskeln und Phrasen von gut uninformierten Fragern fast schon als Versuche zu werten sind, Freundschaften zu schließen anstatt kritisch zu berichten (übrigens die strrikte Abkehr des alten Grundsatz von Hanns-Joachim Friederichs "Immer dabei sein, nie dazugehören!"), in einer solchen Zeit hat man einen Verstand ganz einfach auch einmal auf Reisen zu schicken. Basta!

Deshalb fehlt mir nach siebzehn Tagen TV-Pause kein einziges verpasstes Interview, keine Quizshow, kein Nachrichtenüberblick. Gute Filme, die fehlen mir schon, aber die kann man sich im Leben immer noch einmal ansehen. Wohlwollend durfte ich feststellen, dass das Radio auf der Reise nach wie vor kein antiquiertes Informationsportal ist. Auch wenn ich, egal wo immer auf diesem Planeten, die ganze Welt auf einem einzigen Tablett jederzeit zur Verfügung haben könnte: ich würde mich immer wieder für das Radio entscheiden. Und genauso wie die Zeitung mehrere Jahrhundertsprünge ohne größere Schäden überstanden hat, wird auch das Radio zukünftig keinerlei Schaden nehmen. Allein, weil der Äther immer existieren wird und es so einfach ist, Radiowellen durch ihn und übe ihn auf eine Reise in menschliche Ohren zu schicken.

Als Gegenleistung kann der Empfänger wiederum, wenn er sich die richtige Quelle aus dem Äther fischt, viel aus ihr schöpfen. Geistig verdursten braucht heutzutage niemand. Doch: Jeder Mensch bekommt die Quelle, die Erleuchtung, den Radiosender, die TV-Sendung, das Buch, das er/sie/es verdient. Und jeder ist frei zu wählen, ob er kaltes klares Wasser zu sich nehmen will oder vielleicht einen Cocktail aus Waldbränden in den Vereinigten Staaten/Australien/Griechenland, gemnixt mit verschwundenen Babys/Gewaltverbrechen, ausgebrannten, schamlosen, millionenschweren SängerInnen in Dessous/Scheidung/Drogenrausch und abgeschmeckt mit sportlichen Fehl- und/oder Höchstleistungen, unmoralischen oder liebenswerten Politikern oder anderen Gesinnungsnomaden.

Jeder Mensch hat die frei Auswahl, sollte aber bereit sein zu akzeptieren, dass vieles, was uns heutzutage als "Das wahre Leben" verkauft wird, nichts anderes ist als Popmusik: Kreischend, intensiv, atemberaubend, morgen schon wieder vergessen und vom Grunde her unwichtig. Nicht lebensnotwendig!

Und natürlich: Immer wird sich auch ein Experte/Liedermacher/Talkshowgast finden, der attestiert, das, was uns die Medien vermitteln sei eine erlaubte Ironisierung unseres Lebens. Aber, was viele dabei vergessen: Es ist UNSER Leben! Oder (...sagen Sie es bitte ganz laut zu sich selbst...): Es ist MEIN LEBEN!

Jeder Mensch kann jederzeit sein Leben und dessen Umstände in irgendeiner Weise selbst beeinflussen. Er muss nur seinen Verstand auf Reisen schicken. Schauen Sie sich nur den Film "Magnolia" an - in dem es gegen Ende so stark regnet, dass Frösche vom Himmel fallen. Es scheint fast, dass es bald vor meinem Zeit ebenso weit ist - und merken Sie sich den Kernsatz dieses Films von Paul Thomas Anderson der da heißt: "Wir haben vielleicht mit der Vergangenheit abgeschlossen, aber die Vergangenheit nicht mit uns."

in diesem Sinne...

Der Verfasser

Losung am 10. August

"Ich möchte Weltenbürger sein,
überall zu Hause und überall unterwegs."
(Erasmus von Rotterdam)

Donnerstag, 9. August 2012

Freitag 2002-08-09 | EIN HESSE, DER KEIN HESSE WAR

Der sechzehnte Tag: Wertheim

Der vorletzte Tag meiner Europareise ist der Tag, den ich einem Menschen widmen möchte, wie er undeutscher nicht sein konnte und der dadurch in sich mindestens den europäischen Kontinent vereinte, dazu noch Asien und Nordamerika und...aber alles der Reihe nach.

Meine Frau hat sich bei mir beschwert, weshalb ich in meinen siebzehn Tagen Europa allein den Toten nachreisen würde. Wertfrei betrachtet hat sie da völlig recht. Auch der Mann, um den sich in meiner heutigen Geschichte alles dreht, ist tot. Er starb heute von vierzig Jahren in Montagnola in der Schweiz. Aber meine Frau hat dann auch wiederum nicht recht, denn es sind ja die lebendigen Europäer, die ich auf meiner Reise immer wieder beobachtet und beschrieben habe, die in "17 Tage Europa" präsent sind und die sich im Grunde weder in den vergangenen noch den kommenden Dekaden vom Wesen her verändern werden.

Wenn sie sich über Generationen betrachtet doch verändern, dann wird dies oft verursacht durch die Kunst. Egal ob es Musik ist oder Literatur oder Malerei: all das beeinflusst das Leben der Menschen in ganz erheblichem Maße und fast immer waren es Europäische Künstler. Da Vinci oder van Gogh, die Beatles oder die Stones, Shakespeare oder Goethe.

Und dann gab es auch noch den Mann, der am 2. Juli 1877 in Calw geboren wurde und mit seinen Geschichten und Gedichten die Welt so verzauberte und veränderte, dass ihm ein Jahr nach Ende des II. Weltkriegs der Nobelpreis für Literatur verliehen wurde.


Schon die Familienverhältnisse, in die er hineingeboren wurde, waren ebenso kompliziert wie interessant. Fast könnte man versucht sein, ihn als Pendant zu Thomas Mann zu sehen, seine Famile als ebenso repräsentativ als die Manns oder die "Buddenbrooks". Und tatsächlich hatte es die Vorfahren von Herman Hesses Vater Johannes von Lübeck aus in die Welt gezogen - Johannes Hesse selbst war in Estland geboren. Als Missionar arbeitete sein Vater später u. a. in Indien und lernte dort seine Frau Maria kennen; beide Elternteile von Hermann Hesse arbeiteten dort für die Basler Mission.

Die Welt, in die Hermann Hesse im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts hineingeboren wurde, war kompliziert. Als Sohn eines baltischen Vaters war Hermann von Geburt an Russischer Staatsbürger, lebte mit seinen Eltern aber im schwäbischen Städtchen Calw, in dem sein Großvater "residierte", wie Hesse es später einmal bezeichnete. Immer noch mit Kontakten in die ganze Welt ausgestattet, war der Großvater eine Art Mysterium für die vom Pietismus geprägten Calwer, vor allem wenn aus aller Herren Länder Besuch kam: merkwürdig gekleidete Menschen, die in unbekannten Sprachten mit dem Großvater kommunizierten. Für den jungen Hermann war es so, als ob der Großvater seine "Spione" empfangen und ausfragen würde.

Die Großmutter allerdings, eine geborene Schweizerin, sprach mit Hermann und dessen Geschwistern stets nur französisch und blieb ihnen, bis zu ihrem Tode im Jahre 1885, eine Fremde. Und doch hatte sie mit dem Rest der Familie eines gemeinsam. Auch sie blieb, ebenso wie Vater und Mutter Hesse und Hermann selbst, während ihres Lebens unangepasst in ihrer schwäbischen Zwischenheimat; alle waren "höfliche, aber sehr fremde und wenig verstandene Gäste" im Schwarzwald.

Doch war sein Großvater keineswegs streng zu Hermann. Im Gegenteil: dem Enkel stand stets die gewaltige Bibliothek des belesenen und gelehrten Großvaters offen, welcher sich Hermann intensiv annahm. Diese Werken der Weltliteratur  waren die Grundlagen für ein Gefeitsein gegen jeden Nationalismus, wie Hesse anläsßlich der Verleihung des Nobelpreises verriet.

Sein Vater hatte dagegen andere Pläne mit dem Dichter. Hermann solle das renomierte evangelisch-theologische Seminar in Maulbronn besuchen, ein Internat. Der Sohn fügt sich und beginnt, nach bestandennem Landexamen, 1891 die Studien in Maulbronn. Anfangs enthusiatisch, dann schon im darauffolgenden März, entflieht er den Mauern, da er sich eingeingt und euingeschnürt fühlt. Auf freiem Feld wird er aufgegriffen, muss Maulbronn sofort aufgrund seiner "Charakterschwäche" verlassen.


Es folgt eine schwere Zeit für den jungen Dichter. Drei Monate nach dem Rausschmiss besorgt sich Hesse einem alten Revolver und will sich damit erschießen, möchte "hingehen in das Abendrot". Der verrostete Revolver funktioniert nicht, Hesse erleidet einen Nervenzusammenbruch und wird zuerst in die Anstalt Bad Boll eingewiesen, später in die Nervenheilanstalt in Remstal. Dort arbeitet er als Gärtner und unterrichtet geistig behinderte Kinder. Auch die Ideen zu seinem Gedichtezyklus "Bäume" entstehen hier.

Danach bricht Hesse mit seiner Familie und macht eine Mechanikerlehre in der Calwer Turmuhrenfabrik Perrot. Die eintönige, immer gleiche Arbeit führt dazu, dass sich Herman Hesse wieder der Literatur zuwendet und 1895 eine Lehre in iner Buchhandlung beginnt, die er mit aller notwendigen Ernsthaftigkeit betreibt, da er sich mit dem dort zu verdienenden Geld die Unabhängigkeit von der Familie verschafft.

Nach Abschluss der Ausbildung publiziert Hesse seine beiden ersten eigenen Werke; die Bücher werden ein finanzieller Mißerfolg. 1899 zieht Hermann Hesse nach Basel, arbeitet dort in einem Antiquariat und schreibt weiter seine Geschichten: das Buch "Hermann Lauscher" und der Roman "Peter Camenzind" erscheinen. Hesse publiziert nun auch in Zeitungen und Zeitschriften, findet in Samuel Fischer einen neuen Verleger und kann von nun ab von der Schriftstellerei leben.

1904 heiratet Hesse Maria Bernoulli, die in Basel als selbstständige Fotografin arbeitet; drei Söhne werden geboren: Bruno, Hans Heinrich und Martin. Hesse ist jedoch in dieser Zeit oft auf Reisen, seine kleine Familie alleine zu Hause. In Indonesien, Ceylon oder Indien entstehen die Ideen für Herman Hesses spätere Romane und Erzählungen wie dem"Glasperlenspiel".

Durch die Auseinandersetzung mit dem I. Weltkrieg (Hesse selbst war wegen seiner gesundheitichen Problene, physischer und psychicher Art vom Kriegsdienst befreit) entwickelt er sich zum Kriegsgegner und Befürworter der Wehrdienstverweigerung. 1917 verfasst Hermann Hesse seinen Roman "Demian", der 1919 veröffentlicht wird. Es ist ein Entwicklungsroman, der viele Parallelen zu Hesses eigenem Leben hat und den ersten Weltkrieg mit einbezieht.

Nach Ende des Weltkrieges hat Hesse eine Affäre mit Ruth Wenger, der Tochter einer Schriftstellerin; seine Frau Maria ist mit schweren Depressionen in ärztlicher Behandlung. Hermann Hesse zieht deshalb 1919 ins Tessin, ohne seine Frau und die Kinder, schreibt dort seinen Indien-Roman "Siddhartha", der 1922 erscheint. Maria Hesse erkennt in der Romanfigur "Kamala" (die Siddhartha in die Geheimnisse der Liebe einführt) die Geliebte ihres Mannes und lässt sich scheiden.

Hesse (der 1923 Schweizer Staatsbürger wurde) und Ruth Wenger heiraten 1924. 1927 veröffentlicht er mit dem "Steppenwolf" sein bis heute erfolgreichstes Buch. Im gleichen Jahr erkennen Hermann und Ruth, dass sie - abgesehen von der erotischen Anziehungskraft aufeinander - kaum gemeinsame Interessen haben und reichen die Scheidung ein.

Der Dichter wendet sich nun Ninon Doblin zu, einer Vererhrerin, die bereits seit 1909 in brieflichem Kontakt mit ihm stand und später seine dritte Ehefrau wird. 1930 schreibt und veröffentlicht Hesse seine Erzählung "Narziß und Goldmund", kurz danach beginnt er mit der umfangreichen Arbeit für "Das Glasperlenspiel".

Im Dritten Reich wibt Hesse für die Bücher von Autoren, die von den Nazis verfolgt oder bedrängt werden. Schon bald traut sich kaum noch eine deutsche Zeitung, Artikel von ihm zu publizieren. Auch diese Eindrücke fließen in "Das Glasperlenspiel" ein, ebenso die Schrecken des II. Weltkriegs. 1943 wird das Buch in der Schweiz publiziert und dies bildete die Grundlage für die Verleihung des Nobelpreises an ihn drei Jahre später.

Nach "dem größten literarischen Erfolg, den ein Dicher haben kann" (so Hesse über den Nobelpreis) ging seine Produktivität zurück. In den 1950er Jahren veröffentlichte der inzwischen fast Achtzigjährige nur noch kurze Erzählungen und Gedichte. Als er 1962, an Leukämie erkrankt, einem Gehirmschlag erliegt, achtet man ihn weltweit als Dichter des Zeitgeistes, ausgehend vom späten 19. bis in die Mitte des 20. Jahrhundertzs. Thomas Mann sagte einst über Hesses "Demian" es sei eine "Dichtung, die mit unheimlicher Genauigkeit den Nerv der Zeit traf und eine Jugend, die wähnte, aus ihrer Mitte sei ihr ein Künder ihres tiefsten Lebens entstanden (...)".

Nach seinem Tode wurden seine Werke auch im anglo-amerikanischen Raum verstärkt gelesen, durch Künstler, wie den Musiker-Poeten Bob Dylan, der jugendlichen Generation nahe gebracht und bildeten in der Hippie-Bewegung der später 1960er Jahre eine Alternative zur Erweiterung des Bewusstsiens in Zeiten des Vietnam-Krieges. Nicht umsonst wurde "Born To be Wild" der Musikgruppe "Steppenwolf" (die ihnen Bandnamen Hesse entlehnt hatte) zur Hymne einer ganzen Generation.

Losung am 09. August

"Ein großer Künstler sieht die Dinge niemals so, wie sie sind.
Sähe er sie so, wäre er kein Künstler mehr."
(Oscar Fingal O' Flahertie Wills Wilde)

Mittwoch, 8. August 2012

Donnerstag 2002-08-08 | EXPECT THE UNEXPECTED

Der fünfzehnte Tag: Raststätte Hünxe/Köln-Hürth/Frankfurt/Aschaffenburg/Wertheim

Es regnet in Strömen... (nachträgliche Einfügung vom September 2002: Über Mitteleuropa hatte sich schon am Tag zuvor eine Schlechtwetterfront zusammengefunden, die ab den Morgenstunden des 8. August 2002 Richtung Alpen zog und in den Folgetagen vornehmlich in Süd-, Mittel- und Osteuropa zu sintflutartigen Regenfällen, Unwettern und Schlammlawinen führte, die großen Teilen Europas Verwüstungen, den Tod, Verzweiflung, Fassungslosigkeit und kaum wieder gut zumachenden Schäden brachte. In Deutschland und Polen wurden die Auswirkungen dieser Schlechtwetterfront als "Großes Elbhochwasser" spürbar.) ...als ich gegen 7 Uhr 30 in Hünxe losfahre. In Macon hatte ich mir eine CD von Kraftwerk gekauft mit Liveaufnahmen aus dem Jahre 1974. Die höre ich mir nun während der Autofahrt an und muss feststellen, dass "...wir fahr'n, fahr'n, fahr'n auf der Autobahn" auch ganz schön anstrengend sein kann.

Kurz vor Köln wird der Regen so stark, dass plötzlich nichts mehr voran geht. Die Wassertropfen, die auf das Auto schlagen, sind so dick wie kleine Meeresquallen und führen dazu, dass kein einziger Autofahrer auf der Autobahn weiterfahren will oder kann. Kraftwerk spielen gerade ihre "Kometenmelodie" während das himmlische Wetterkraftwerk seine Schleusen noch eine Stufe stärker öffnet. Jetzt erlebt man, was es ist, wenn es sprichwörtlich "wie aus Eimern" regnet. Ein unglaubliches Schauspiel.


Die Autobahn fasst die Wassermassen nicht mehr, und dafür wurde sie ja auch nicht gebaut. Eine Viertelstunde dauert das Schauspiel, dann ist die unsterbliche Natur wieder dazu übergegangen Gnade gegenüber uns Sterblichen walten zu lassen, denn es regnet nur noch in Strömen. Irritiert stelle ich fest, dass es bei Windstärken zwar eine Maßeinheit gibt, die es den Menschen erlaubt subjektive Einschätzungen zu finden. Für Regen gibt es eine solche nicht. Noch nicht. Die zukünftigen Klimaveränderungen auf unserer Mutter Erde werden dies aber noch notwendig werden lassen und Literangaben pro Qm sind ungeeignet, das unbändige Potential der Kraft des Niederschlags für den menschlichen Geist fassbar zu machen.

Dinge gibt es zwischen Himmel und Erde, die sich unser Verstand nicht vorstellen kann. Shakespeare hat dies so beschrieben und Goethe auch. Meine Intepretation dieser Metapher ist trivialer. Ich habe sie im Frühjahr zu Papier (respektive: in den Computer) gebracht und da ich sie bereits zu Anfang meiner Reisebeschreibung angedeutet hatte, scheint es mir jetzt die passende Gelegenheit um sie zu erzählen. Auch, weil ich angesichts des Regens soeben auf diesen nur in Form eines kleinen lyrischen Werkes reagieren kann, das ich am Ende des heutigen Tages anfüge.

Mein Werk für die Dinge, die sich zwischen Himmel und Erde abspielen ist




Nicht, dass Kilian wirklich überrascht gewesen wäre, sie zu sehen. Es war die Art und Weise, wie sie sich ihm offenbart hatten, die ihn überraschte. Zwei junge Männer, offenbar Russen, der eine mit rasiertem Schädel, einen blauen Pullover tragend und durchtrainiert, der andere eher schmächtig, mit schwarzen Haaren, die aussahen, als habe sie ein Insekt angefressenen, und einer Vielzahl schmerzerregender Tätowierungen auf dem nackten Oberkörper, übergaben ihm eine längliche braune Ledertasche, in der sich offensichtlich ein Radiogerät befand und aus der die Ecke eines Briefes hervor schaute.

Und richtig: Es war eine Art Kofferradio, auf ihm stand zu lesen 'Кocmohabt'. Gerade als Kilian versuchte, der ganzen Sache einen Sinn abzugewinnen sprach ihn aus dem Lautsprecher des Kofferradios eine nette Frauenstimme an - ganz so wie man es aus dem Off der 'Sendung mit der Maus' kennt - und sagte: "Das ist Russisch und heißt 'Kosmonaut'".

Wortlos setzten sich die beiden Besucher nun auf das Bett in Kilians Hotelzimmer und schauten ihn erwartungsvoll an. "Ist das für mich?" fragte er sie, um die Situation etwas aufzulockern und deutete auf das Kofferradio. Die beiden nickten. Kilian betrachtete sich das Kofferradio; es schien aus der ehemaligen Sowjetunion zu stammen, war in einem Art brauner Lederverkleidung eingepackt und hatte nur Mittelwelle und Kurzwelle. Dann schaute er sich den Brief näher an. Auf der Vorderseite des Umschlags stand ein Satz, der mit "Przechowywac w chlodnym i suchym miejscu..." begann. Kilian fragte sich, was dies zu bedeuten habe und erhielt erneut unerwartete Hilfe durch das Radio. "Das ist Polnisch", sagte die Sprecherin und lieferte ihm erneut die Übersetzung gleich mit: "An einem trockenen Ort lagern und vor Wärme schützen."

Ah, dachte er, deshalb hatten die beiden wohl abgewartet, bis Kilian im Hotelzimmer angekommen war, denn draußen regnete es ohne Ende. "Kommen Sie aus Polen?" fragte er seine Besucher. "Noi" sagte der rasierte Schädel und fügte an "Нobovletloncka". Der andere Besucher nickte zustimmend und holte aus einem Beutel, den er neben das Bett gestellt hatte, eine Flasche 'Baltica'-Bier, öffnete den Kronkorkenverschluss mit einem Schlag auf die Bettkante und hielt Kilian die Flasche entgegen. Ach so läuft die Sache, dachte der sich und ihm fiel Arthur Dent und das bevorstehende Ende der Welt ein; lediglich die Erdnüsse fehlten noch. "Kommen Sie vielleicht aus dem Baltikum?" fragte Kilian den rasierten Schädel und ignorierte das Angebot des Schmächtigen. "Noi!" sagte der rasierte Schädel nochmals, diesmal aber wesentlich bestimmter: "Нobovletloncka!".

Nun versuchte Strelitz es mit Smaltalk. "Wissen Sie, ich kenne mich bei den Städten Osteuropas nicht so gut aus", entgegnete er. "Wo liegt denn Nowa ... äh ... svetlanska?" "Nowosvetlonsk" sagte diesmal das Radio, während der Schmächtige auf den Brief deutete. "Dies sollten Sie lesen", riet ihm das Radio daraufhin.

Kilian nahm nun den Brief aus der Ledertasche. Zu seiner Überraschung war auf der Rückseite des Umschlags "Für Kilian" zu lesen und als Absender war angegeben "Die Einhandesser". Er öffnete den Umschlag, entnahm den darin enthaltenen Brief und entfaltete ihn.

"Grüß Dich", stand da zu lesen. "Du wunderst Dich vielleicht, von uns so einen Brief zu erhalten, aber so ist das manchmal im Leben. EXPECT THE UNEXPECTED! Du hast uns erschaffen und die Geister, die man rief ...". Kilian war irritert und interessiert zugleich. "Also am Besten gleich zum Grund für unser Schreiben an Dich:

Schön viele Dinge und Ideen hast Du fabriziert, aber das EINE fehlt noch. Dabei ist es so einfach! Es fehlt Dir ein Lebenskonzept. Gut, dies wusstest Du und das wussten wir ja schon lange. Aber, dass Dir das Konzept sozusagen auf der Hand oder in Deiner Hand liegt, das scheinst Du nicht zu wissen: DIE ZEITMASCHINE.


Keine Frage: Ihr Deutschen seid so toll in wisschenschaftlichen Dingen, kämpft zweimal gegen die ganze Welt, werdet jedes Mal besiegt, und doch kommt ihr beide Male mächtiger zurück als zuvor. Also wer auf der Welt sollte die Zeitmaschine bauen, außer ein Deutscher? Und niemandem anderen außer Dir würde man das abnehmen. Und - unter uns gesagt - Du solltest es Dir auch von keinem anderen abnehmen lassen.

Deine Arbeit an DER ZEITMASCHINE würde zudem all Deinen Bewunderern die kreative Pause erklären helfen, die Du schon so lange geplant hast, aber auf Rücksicht auf sie nicht umsetzen willst. Mit der Zeitmaschine würdest Du unsterblich werden können - und glaube uns: Du kannst es!

Später würde dann vielleicht sogar ein Spektakel daraus werden. Wer kann so etwas schon ermessen? Eigentlich nur Du allein: Mastermind Strelitz; kein Christus mehr von Nazareth, sondern Petruski, ein Missionar in eigener Sache (und natürlich nationalen Angelegenheiten und Affären). Ein Ziel, für das es sich zu leiden lohnt!

Und es ist unbestritten, dass Du es schaffen kannst und es auch schaffen wirst. Deine westdeutschen Bewunderer werden Dich ewig lieben und die Ostdeutschen werden Dir zu Füßen liegen. Denn nichts geringeres erwarten sie von Dir als: DIE ZEITMASCHINE. - Denk darüber nach.

Mehr können wir derzeit nicht für Dich tun.

Mit formidablen Grüßen

Deine Einhandesser"

Kilian blickte auf. Dort, wo gerade noch die beiden Russen auf seinem Hotelbett gesessen hatten, waren jetzt nur noch zwei Abdrücke in der Bettdecke zu sehen. Nur die Flasche 'Baltica'-Bier stand nach wie vor auf dem Boden. Kilian versuchte sich zu erinnern, was geschehen sein konnte, während er den Brief gelesen hatte. Der Text hatte sein Interesse so sehr für sich eingenommen, dass er gar nicht mehr richtig auf seine ungebetenen Gäste geachtet hatte.

Richtig! Der rasierte Schädel mit der Goldkette hatte die Bierflasche gerade angesetzt, als er die ersten Zeilen des Briefes gelesen hatte. Nachdem er die rsten zeilen gelesen hatte, war er etwas irritiert gewesen und kannte idaran erinnern, dass der Schmächtge die Flasche übernommen hatte um ebenfalls etwas daraus zu trinken. Kilian blickte nun auf den Tisch und fand dort immer noch das Kofferradio vor.

Er ging zum Tisch, schaltete es ein und hörte Jon Anderson singen "... I feel lost in the City ..." gefolgt von den letzten Takten aus "Heart Of The Sunrise". Kilian betrachtete sich nun das Radio in Ruhe. Auf der Skala des Radios war die Sendefrequenz eingestellt: Mittelwelle 531 Khz. In diesem Moment kramte Kilioan die Erinnerung an seine Jugendzeit hervor. War nicht auf der Frontscheibe seines alten Grundig Radios, das er bereits vor Jahrzehnten zum Sperrmüll gegeben hatte, bei 531 Khz neben dem Schweizerischer Landessender 'Beromünster' auch 'Nowosvetlonsk' aufgedruckt gewesen?

Doch wer zum Teufel sind "Die Einhandesser"? Und weshalb waren heute die eiligen zwei Könige zu ihm gekommen; hatten die sich vielleicht sogar im Stall geirrt. Kilian blickte noch einmal auf den Brief und dort stand ohne Zweifel sein Name zu lesen. Doch, dovh, dahte er, man hatte zu ihm gewollt und zu niemandem anders.

Kilian nahm das Kofferradio vom Tisch, las noch einmal 'Kocmohabt', musste unwillkürlich schmunzeln, dass es ein Kofferradio für Kosmonauten gibt, legte den Brief vorsichtig ganz nach unten in seine Sporttasche, packte das Radio und seine anderen Dinge hinzu, bezahlte an der Rezeption so unauffällig wie möglich seine Rechnung und verließ dann eilig das Hotel.Auf der Uhr in der Lobby konnten er im Vorbeigehen die Uhrzeit lesen. Es war 16 Uhr 23.


Bei mir und im Heute ist es kurz vor 10 Uhr als ich mich entschließe, Köln-Hürth einen kleinen Besuch abzustatten. In Köln-Hürth befinden sich die Magic Media-Studios, die Heimat vieler deutscher TV-Sendungen von der klassischen Tratsch- und Talkshow bis hin zu Stefan Raabs "TV-Total". Der Zenit des Erfolges der Studios scheint mir bereits überschritten, also ist das Gelände gerade richtig für weitere Inspirationen meiner "Tausand Träume". Schon wenige Minuten später bin ich in Hürth (das Köln hören die Hürhter nicht so gerne, denn sie fühlen sich eigenständig) und suche den (nach eigenen Worten) "größten Medienstandort Europas".

Um 11 Uhr suche ich ihn noch immer und bin doch schon, ohne es zu wissen, drei Mal an ihm vorbei gefahren, wie sich später herausstellt. Als ich "Magic Media"dann gefunden habe muss ist feststellen, dass mir die "Big Brother"-Weitwinkelobjektive der Firma Endemol bisher ganz offensichtlich einen Streich gespielt haben. Der Magic Media-Studiokomplex ist so klein, dass er in jedem der vier Gewerbegebiete Jenas ausreichend Platz gefunden hätte.

Zudem hält sich das Flair des Medienstandortes im Moment, ebenso wie der Himmel, recht bedeckt: es ist Sommerpause. Aber andererseits bekomme ich so einen perfekten Einblick in eine schon etwas überalterte High-Tech-TV-Produktionsanstalt im Sommerschlaf. Die nächste Geschichte für ein Buch, das ich noch nicht geschrieben habe, ist damit schon so gut fertig. Man muss eben nur mit offenen Augen und viel Phantasie durch die Welt laufen, wie es Hanns Dieter Hüsch so treffend sagte. Dann ist alles möglich.


Weiter geht die Fahrt an diesem Tag nach Wertheim, einem Städtchen an der Mündung von Main und Tauber, in welchem ich die letzten Tage meiner Europareise verbringen werde. Um 15 Uhr bin ich dort, nicht ohne zur nachdem ich Wiesbaden passiert habe, nochmals eine, diesmal wesentlich abgeschwächte, Version des morgendlichen Regenschauspiels erleben zu dürfen. Doch wieder halten die Autofahrer an. Ein passender Moment also für mein Gedicht:

Ihr Narren!
Wie könnt ihr bei solch einem Guß
überhaupt an ein Verweilen denken?
Wenn ihr hättet gesehn, was ich einst erlebte,
ihr würdet die Häupter senken.
Ein Strom mit unendlicher Fülle warf sich auf die Erde herab,
ich sah die Flut mit Grausen und mich in einem feuchten Grab.

Doch die Wut des Himmels brachte noch mehr Tosen, noch mehr Urgewalt
und so mächtge Wassermassen, dass mein Hilferuf tonlos verhallt.
Dreißig Tage, dreißig Nächte Regen und kein End‘ ist zu sehn.
Mensch der du dies miterlebtest, du weißt:
Es wird bald zu Ende gehen!

Wenn ihr hättet gesehn, was ich einst erlebte
ihr würdet die Häupter senken.
Ihr Narren, wie könnt ihr bei solch einem Guss
überhaupt an ein Anhalten denken?

Losung am 05. August

"Sans la liberté de blâmer il n'est point d'éloge flatteur."
"Ohne die Freiheit, kritisieren zu dürfen, gibt es kein schmeichelhaftes Lob."
(Pierre Augustin Caron de Beaumarchais)

Dienstag, 7. August 2012

Mittwoch 2002-08-07 | EIN GANZES MUSEUM FÜR EINEN EINZIGEN MANN

Der vierzehnte Tag: Den Helder/Amsterdam/Uttrecht/Arnheim/BAB 3 Raststätte Hünxe

Früh um sechs Uhr fahre ich los in Den Helder Richtung Amsterdam und "de Nederlande" sind immer noch so klein, dass ich bereits um kurz vor sieben Uhr in Amsterdam bin. Zeit genug einen Rastplatz anzusteuern um ein bisschen "Radio 2" zu hören und ein wenig an den Büchern weiterzuarbeiten. Geregnet hat es in der Nacht und das hat mit der Bodenfeuchtigkeit zu tun oder mit "de Unstabiliait van de Atmosphaere" (wie es mir der Radiosprecher erklärt) die im Laufe des Tages als Wasserdampf in die Wolken steigt und ab dem späten Nachmittag hier und da als Regen herunterkommt.

Aber wenn morgens die Sonne erst einmal aufgegangen ist, dann bleibt es trocken; heute war das genau um 6 Uhr 55 der Fall. Man muss also nur abwarten können. Punkt neun Uhr am vierzehnten Tag meiner Reise wird Amsterdam besucht: man ist und bleibt ja schließlich Deutscher mit aller Vergangenheit und aus dieser Geschichte kommen wir so schnell nicht raus. Nicht zuletzt wegen Annelies Marie auf Frankfurt am Main.

Mein Auto verstaue ich in einem Parkhaus, dass sich "EuroParking" (ich finde es nett, dass man sich in so vielen Ländern auf meine Europareise gefreut und sich darauf vorbereitet hat) und mir einen Stundenpreis von 3 Euro für seine Dienstleistung offeriert. Deshalb fahren die Amsterdamer also immer noch am Liebsten mit ihrem Fahrrad - schon wieder habe ich etwas gelernt. Zwar hätte ich meinen Mercedes auch vor den Toren der Stadt auf einem Park&Ride-Platz abstellen können, aber hier gilt der alte Autofahrerregel "Immer nur soviel im Auto zurücklassen, wie der Dieb tragen kann!".

Die Amsterdamer Grachten sind voller Hausboote und die darum gebauten Straßen voller Menschen, denen man sofort ansieht, dass sie entweder Gast in Amsterdam sind oder Gastgeber. Als ich mit Deutschland telefonieren möchtel und mich gerade mit den Tücken eines Kreditkartentelefons befassen muss, geht eine Mitfünfzigerin, die hier so gar nichts mehr mit "Madame Fleury" aus dem Elsaß gemeinsam hat, auf einen neben mir stehenden Gast zu und bittet ihn um eine kleine Spende. Für sich selbst.

Mein Nachbar, der offenbar die gleichen Probleme mit seinem Telefon hat wie ich, gibt ihr eine klare Antwort: "Piss off!". Das hört die ältere Dame gar nicht gern und lässt im besten Englisch Schimpfkannonaden auf den Mann los, jedenfalls soweit das ihr fast zahnloser Mund zustande bringt. Ich kann die Worte und Sätze hier überhaupt nicht wiedergeben, denn es war so viel Hass darin, dass es mir unmöglich war, alles zu behalten. "Hurensohn", "Verf*** Drecksack" und "Mothafucka" bekomme ich noch zusammen. Mittlerweile hatte der Mann seine telefonische Verbindung zustande gebracht, aber an ein Telefonieren war überhaupt nicht zu denken, denn die Frau hatte das Szenario akustisch voll im Griff.

Im leichten Nieselregen gehe ich weiter durch die Stadt, vorbei an Coffeeshops, die nach frischen Kräutern duften, an einem Automatenrestaurant, in dem fleißige Asiaten von hinten frische Frühlingsrollen und Hamburger in die Fächer schieben und in denen man von vorn gegen den Einwurf von Münzen das Essen noch fast warm herausnehmen kann. Dem Kulinarischen habe ich mich in meiner Reisebeschreibung der letzten Tage durchaus verwehrt, denn meine Mahlzeiten bestnadne aus Fast-Food und Dosennahrung. Hier in Amsterdam bieten mir die AUtomaten nun "kaassoufle", "satekroket" und grillburger" an, und zwar "de lekkersste!", die man sich vorstellen kann. Ich koste...und bin auch schon bedient: Bedankt!

Ich laufe vorbei an Schoko- und Zuckerwarenläden, an Tabakgeschäften in denen man (so wie ich) eine Kiste mit frisch gedrehten "Wilde Havannas" erstehen kann, an Hippies, die sich in den Parks Amsterdams wie vor 35 Jahren fühlen (obwohl viele von ihnen vor 35 Jahre noch gar nicht geboren waren), vorbei an Straßenbahnen und Souvenierläden, die die Amsterdamer Tulpen entweder als Zwiebeln oder als Holzplagiat anbieten. Und dann habe ich das Ziel meiner Reise erreicht: Ein Museum ganz allein für einen Mann.

Nein, dieser Mann hat nun gerade NICHT die Photographie erfunden. Hier ist seine Geschichte, jedenfalls aus meiner persönlichen Sicht:


Vincent war sechzehn Jahre alt, ein junger Mann ohne konkrete Ziele. Deshalb entschieden seine Eltern für ihn, dass er in der Kunsthandlung seines Onkels einen soliden Beruf erlernen soll. Dort stellte man jedoch bald fest, dass Vincent keine Freude an der Arbeit in einem engen Büro verspürte - immer wieder schlich er sich während der Arbeitszeit ins Freie. Nach vier Jahren wurde er deswegen zuerst in eine Filliale nach London versetzt, aber auch da machte er seinen Vorgesetzten keine rechte Freude. Also verschob man ihn 1875 in die Pariser Filliale der Kunsthandlung. Dort, an der Seine, gefiel es Vincent zwar, aber die kunsthändlerische Arbeit, das war worklich nicht seine Welt. 1876 trennte sich sein Onkel von ihm, schickte ihn zurück nach Holland. Vincent war gescheitert und seine Eltern ratlos.

Inzwischen arbeitet sein jüngerer Bruder Theodore an Vincents Stelle in der Kunsthandlung des Onkels und war dabei wesentlich geschickter. Doch die Familie bewegte nur die eine Frage: Aber was sollte bloß aus Vincent werden? Der war inzwischen schon 24 Jahre alt und hatte immer noch keine Lebensperspektive. Die suchte er schließlich in einer Ausbildung zum Pfarrer. Mit Inbrunst und Leidenschaft widmete sich Vincent van Gogh der Vorbereitung auf das Theologiestudium. Jedenfalls zuerst. Doch das strikte, strenge Studium der Religionswissenschaft dauert ihm zu lange und so bricht er es ab und wird Laienprediger. Eine weitere Enttäuschung für seine Eltern.

Im Süden Belgiens findet er tatsächlch eine Anstellung als Evangelist. Eien karge Gegend und da muss manals Kirche seine Ansprüche ein wenig nach unter schrauben, ist froh, dass sich überhaupt jemand findet, der dort predigen will. Und trotzdem: in seiner Art ist Vincent der belgischen Kirche zu offen, den Bauern ist er zu fromm, sich selbst ist Vincent nicht fromm genug. das "Experiment" wrd abgebrochen, seine Stelle nicht verlängert.

Wer 26 Jahre alt ist und als junger Mann schon zwei Mal den Weg in den Beruf nicht geschafft hat, der ist im Holland des 19. Jahrhunderts gescheitert - genauso wie es auch anderswo zu dieser Zeit gewesen wäre. Da kann der Junge so viele versteckte Talente haben, wie er will. Die Eltern geben ihren Sohn auf, entziehen ihm die weitere Unterstützung. Allein sein Bruder Theo, ist überzeugt davon, dass aus Vincent noch etwas werden kann. "Schaut nur", sagt er, "wie gut Vincent malen kann." Auch die Eltern werden wieder aufmerksam auf das "schwarze Schaf" der Familie. Vincent schöpft Hoffnung und zeigt seine Bilder zum ersten Mal seinen Eltern. Man staunt nicht schlecht. Die nächsten sechs Jahre verbessert er stetig seine Maltechnik.


Geld verdienen lässt sich damit jedoch nicht, denn Vincents Bilder sind sehr dunkel, ganz im Stile der alten holländischen Schule gemalt. Die "Kartoffelesser" zum Beispiel sind handwerklich hervorragend gemalt, aber selbst Theo sieht (und er hat das professionelle "Sehen" in der Kunsthandlung des Onkels schließlich gelernt): die Bilder sind viel zu dunkel. So etwas kauft kein Mensch.

Deshalb schlägt er den Eltern vor, der Bruder könne doch einige Zeit nach Paris gehen, wo es ihm ja schon einmal gefallen hatte. Dort sind jede Menge Künstler und damit Förderung und Inspiration für brachliegende Talente. Die Eltern lehnen weiter eine finanzielle Unterstützung von Vincent ab. Da entschließt sich Thea, das Geld selbst aufzubringen, er verdient nicht schlecht und könnte Vincent etwas davon abgeben. Der möchte jedoch keine Almosen haben. deshalb bietet Theodore seinem Bruder einen Deal an: Vincent soll, wenn er seine Bilder nicht verkaufen kann, Theo die Bilder zuschicken und der schickt ihm dafür Geld. Vincent willigt ein: der Deal zwischen den Brüdern ist perfekt.


1886 - da ist er schon 33 Jahre alt - zieht Vincent nach Paris und erkennt dort von selbst, dass sein Malstil, den er sich mit viel Mühe in Holland erarbeitet hatte, hoffnungslos veraltet ist. Vincent van Gogh entwickelt sich in Paris weiter, eignet sich in nur zwei Jahren einen völlig anderen Malstil an. Nun sind seine Bilder extrem farbig und er probiert stets neue Techniken aus. Portraitmaler will Vincent nun werden, ist sich mit einem Mal völlig sicher. Sein bestes Modell ist er selbst. Er malt Selbstbildnis um Selbstbildnis, alle unsigniert, denn sie sind ja nur Versuche. Aber jedes Bild sieht anders aus. Mal getupft, mal auf Karton. Das nächste mit dicker Ölfarbe auf Holz, eine anderes auf Leinwand.

Theo ist einerseits erfreut über die Fortschritte sienes Brunders, andererseits braucht sich Vincent nicht zu wundern, dass er keine Kundschaft hat. Wenn jedes Bild anders aussieht, dann kann sich kein potentieller Kunde sicher sein, wie sein Portrait am Ende aussehen wird. Theo könnte vielleicht die Landschaftsbilder seines Bruders verkaufen, doch entschließt er sich dazu, alle aufzuheben. Und er schickt Vincent weiter Geld.


Der wiederum nimmt kaum Nahrung zu sich, ist abgemagert. Was er Theo in den vielen Briefen, die sie miteinander austauschen, nicht schreibt: so gut wie alles Geld von legt er in Ölfarbe und Leinwand an. Seinem Zimmer duftet stets nach frischer Farbe. Und dies obwohl er am liebsten im Freien malt.

Nach zwei Jahren zieht er um nach Südfrankreich, will dort mit seinen Freunden Henri de Toulouse-Lautrec und vor allem Paul Gauguin eine Künstlerkolonie errichten. Damit Theo weiß, wie es bei ihm "zuhause" in Arles aussieht, hat er ihm schon einmal das Schlafzimmer abgemalt. Gerne (schreibt Vincent an Theo) würde er bei sich Freunde aufnehmen, aber es würden leider so wenige kommen. Toulouse steckt meistens in irgend einem Bordell fest, aber Gauguin käme bald zu Besuch.

Doch Vincents Zimmer sind klein und karg, die Wände sind so leer. Allerdings ist das für einen Maler kein Problem. Sonnenblumen mag Gauguin sehr, das weiß Vincent. Also malt er seinem Freund einen Strauß und hängt ihn, die Ölfarben sind noch frisch als Gauguin eintrifft, einfach an die Wand.


Aber der will nicht bei Vincent bleiben, ist dessen Idee einer Künstlerkolonie nicht gewogen: man streitet sich, heftigst. Paul Gauguin muss wieder zurück nach Paris. Vincent ist einsam. Er schreibt seinem Bruder, dass er sich freuen würde, wenn dieser eine Zeit lang zu ihm nach Arles ziehen könnte. Außerdem schreibt er seinem Bruder, dass er manchmal ohnmächtig wird oder Wahnvorstellungen hat. Wahrscheinlich käme das von den Ölfarben. Und noch etwas müsse er ihm beichten: Vincent hat sich nach dem Streit mit Gauguin ein Ohr abgeschnitten.

Theo kommt sofort nach Arles und ist beunruhigt, als er feststellt, dass Vincent gesundheitlich stark angegriffen ist. Nicht nur körperlich. Sein Bruder stark untergewichtig, der Rest seines Ohres hat sich entzündet. Aber Vincent hat auch oft psychotische Anfälle. Theo kennt dies von der gemeinsamen Schwester Wil. Er redet auf den Bruder ein und bittet ihn, sich umgehend in eine Nervenheilanstalt zu begeben, damit dieser sich "beruhigen" kann, wie Theodor es ausdrückt. Vincent willigt ein, erklärt sich freiwillig zu einem einjährigen Aufenthalt im Hospital von St. Rémy bereit. Seine Bedingung: er möchte dort weiter malen dürfen. Der Leiter des Hospitals stimmt zu.


Kurz bevor er in das Hospital geht, besucht er noch einmal die Gegend um Arles, prägt sich alles ein, skizziert was er sieht: die am Strand liegenden Fischerboote, die Hebebrücke, die Weizenfelder. Und er malt all dies in St. Rémy aus dem Gedächtnis heraus; darunter viele seiner besten Bilder. Vincent van Gogh malt in diesem Jahr Bild um Bild. Es entstehen so viele Bilder wie niemals zuvor. Mit seinen Bildern will er die Welt missionieren, nicht mehr die Menschen. Aber es wird nicht besser mit Vincents geistiger Gesundheit.

Nach einem Jahr wird er aus dem Hospital von St. Rémy entlassen. Vincent zieht in die Nähe seines Bruders ins dörfliche Auvers-sur-Oise nahe Paris. Viele bekannte Künstler haben dort schon gewohnt. in Auvers gibt es auch einen guten Arzt, Kunstfreund und Amateurmaler: Paul Gachet. Dieser kümmert sich intersiv um Vincent und bekommt dafür von diesem ein Portrait gemalt.

Um dem holländischen Maler eine Freude zu machen kauft Dr. Gachet ihm das Bild ab. Kaum zu glauben, aber es ist das erste Mal in seinem Leben, dass Vincent ein Bild verkauft hat. Aber van Gogh fühlt in Auvers-sur-Oise, dass er sich, seine Seele und seine Inspiration verbraucht hat. Ein durchaus üblicher Zustand von Künstlern, die wie Besessene eine bestimmte Zeit lang rund um die Uhr gearbeitet haben. Aber bei Vincent verdüstert diese Mal-Blockade, dieses kreative Burn-Out, den Seelenzustand.

Anfang Juli 1890 besuchte er Theo und dessen Familie in Paris. Vincent sagt Theo, er könne nicht mehr malen, der fragt seinen Bruder, wie es mit ihn weitergehen solle. Es kommt zu Auseinandersetzungen, Handgreiflichkeiten. Mitte Juli schreibt Vincent an seinen Bruder, er köönne nicht mehr malen, da er "ausgebrannt" sei und habe keine Ideen mehr für neue Bilder habe. Der Brief endet mit den Worten "Ich empfinde es als mein Schicksal, das ich annehme und das sich nicht mehr ändern wird".

Am 27. Juli 1890 findet Vincent van Gogh zufällig ein Gewehr und schiesst sich damit in die Brust. Hierfür kann es mehrere Gründe geben. Eine mögliche Erklkärung ist die, dass er seinem Bruder finanziell nicht weiter zur Last fallen wollte, da dieser inzwischen eine Familie zu ernähren hatte. Am 29. Juli 1890 stirbt Vincent van Gogh, ohne dass der herbeigerufene Dr. Gachet oder Theo ihm noch hätten helfen können.


Theo kann diesen Selbstmord nicht verwinden. Hat er sich zu wenig um den Bruder gekümmert? War er am Ende zu streng zu ihm? War dessen Selbstmord allein seine Schuld? Im Oktober 1890 erleidet Theodore van Gogh einen schweren nervlichen Zuammenbruch, ein halbes Jahr nach Vincent stirbt er. Beide liegen vereint auf der Friedhof von Auvers-sur-Oise. Theos Witwe Johanna hebt alle Bilder, die Vincent jemals an ihren Mann geschickt hatte, auf und lagert sie auf dem Dachboden. Alle sind sie noch da, keines hatte Theo weiterverkauft: insgesamt rund 250 Stück. Von Vincent van Gogh gibt es allerdings von etwa gleich viel viele weitere Bilder, die er zumeist an Bauern zum Tausch gegen Essen gegeben hatte oder an die Menschen verschenkte, die ihm Modell gestanden hatten.

Johanna initiiert Ausstellungen und verkauft einige der Bilder an Sammler, denn durch seinen tragischen Tod haben die Bilder van Goghs in Kunstkreisen schnell an Wert gewonnen. In den zwanziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts ordnet sie die verbliebenen Bilder nochmals, es sind nun noch etwa 200 Stück. Nach Johannas Tod im Jahre 1925 erbt ihr Sohn, er heißt Vincent Willem nach seinem Onkel - zu Ehren seiner Geburt hatte ihm Vincent van Gogh "Aste mit Mandelblüten" gemalt - die verbliebenen Bilder.

Diese hatten, dank der Initiativen der Mutter, in den seit Vincents Tod vergangenen dreieinhalb Jahrzehnten, das Interesse zeitgenössischer Künstler und der Kunstwelt gefunden. Vincent van Gogh hatte sich inzwischen einen Namen gemacht, alleine durch seine Werke. Deshalb bittet sein Neffe den niederländischen Staat darum, ein Museum für die Bilder seines Onkels zu finden. Und zwar ein ganzes Museum alleine für Vincent. Wenn dies gelänge, so Vincent Willem van Gogh, könne er sich vorstellen alle verbliebenen rund 200 Bilder und den gesamten Schriftverkehr zwischen seinem Vater Theo und dessen Bruder in eine Stiftung zu überführen und diese würde alles anschließend dem Niederländischen Staat als Dauerleihgabe zur Verfügung stellen.


In den fünfziger Jahren des letzten AJhrhunderts wird die Idee aufgegriffen und umgesetzt, im Jahr 1962 die beabsichtigte Stiftung gegründet. Ein Jahr später gewinnt man den Stararchitekten Gerrit Rietveld für die Konstruktion eines Van-Gogh-Museums. Knapp achtzig Jahre nach Vincent van Goghs Tod und noch zu Lebzeiten seines Neffen kam es zur Eröffnung des Museums in AMsterdam. Vincent Willem hatte damit sowohl das Vermächtnis seines Vaters als auch das seines Onkels erfüllt. Und erstmals konnten sich alle Menschen in Ruhe die Originalbilder Vincent von Goghs ansehen.

So wie ich an diesem Tag, den ich deshalb niemals wieder vergessen werde. Am späten Nachmittag, kurz bevor das Museum seine Pforten schliesst, verlasse ich es. Nicht für immer, denn irgendwann zieht es jeden in dieses Museum zurück.

Über Uttrecht fahre ich nach Arnheim und dann zur Raststätte Hünxe, die ich nun von ihrer ganz anderen Seite kennenlerne. Als es schon dunkel ist, schreibe ich diese Zeilen nieder und danach das Ganze noch einmal in einen Brief an meine Nichte Ina. Draußen fängt stark zu regnen an.

Losung am 07. August

"Ich kann nichts dafür, daß meine Bilder sich nicht verkaufen lassen.
Aber es wird die Zeit kommen, da die Menschen erkennen,
daß sie mehr wert sind als das Geld für die Farbe."
(Vincent van Gogh in einem Brief an seinen Bruder Theo)

Montag, 6. August 2012

Dienstag 2002-08-06 | Tausand Träume

Der dreizehnte Tag: Den Helder

Der Morgen bringt eine Überraschung: In einem wolkenlosen blauen Himmel brennt die Sonne und es ist fast so heiss wie in Südfrankreich. Das ist zumindest ungewöhnlich, nach dem leichten regen der letzten TAge. Heute will ich die einzelnen Küstendörfer inspizieren. Zwischen Den Helder und dem etwa 40 Kilometer südlicher gelegenen Alkmaar gibt es eine Menge davon. Von unten nach ober sind dies Orte wie Bergen und Schoorl, Camperduin, Petten und Sint Maartenzee, Callantsoog (auf dessen Zeltplatz ich genächtigt habe, t’Zand, Groote Keeten und Julianadorp. Und genau hier möchte ich Eindrücke und Ideen für ein Buch sammeln, das auf einem andern Buch aufbaut, das ich als Kind abgöttisch geliebt habe: J. G. Ballards "Die 1000 Träume von Stellavista (und andere Vermilion Sands Stories".

Ballards Sammlung (die im Original "Vermilion Sands" heißt") beinhaltet SF-Geschichten, zu der ich schon 25 Jahren als junger Musiker Lieder und Liedtexte schrieb (darunter z. B. 1977 "Fable Man" und "Drakeman" für meine damalige Band "Melvin Dawson and Friends). Seit Mitte der Neunziger Jahre wollte ich eine eigene Geschichtensammlung zusammenstellen, die eine Fortsetzung des Buches werden sollte - sozusagen "VS Revisited" -, aber es kamen bislang nur zwei Geschichtenfragmente dabei heraus: "Das Herrenhaus" und "Sunder Bay".

Zu meinen Schriftsteller-Glück fehlte mir vor allem die Inspiration für den Küstenort "Vermillion Sands", mit seinen roten Sanddünen, ganz so wie man sich cen Mars vorstellt, auf den sich die menschen ab und an hinträumen und dessen rote OPberfläche inzwischen ja von den Fotos der Raumsonden "Viking" und "Pathfinder" bestätigt wurde. Hier an Hollands Küste war ich auf der Suche nach Inspirationen und Eingebungen für die nächsten fünf Geschichten.


Mit dem Abstand des Abends, tippe ich diese Zeilen in meinen Laptop, der mit feinem Sand überzogen ist, den der WInd auf ihn geweht hatte, während ich meine einzelnen Geschichten am Strand ausdachte. und hier sind sie: meine Ideen und Inspirationen für den Küstenort "Zinnober" im meinem kommenden Buch "Tausand Träume".

Vorwort: Zinnober heißt ein Küstenort, irgendwo in der Zukunft, der seinen Namen von der Farbe seiner Sandstrände und Dünen erhielt. Auch in der Umgebung von Zinnober wirkt alles, wie eine Landschaft auf dem Mars, wäre da nicht der azurblaue Himmel und das tiefblaue Meer. Diese Kombination aus Rot und Blau hat Zinnober einst berühmt gemacht. Viele Jahrzehnte lang war "Zino" der globale Trend-Urlaubsort schlechthin; aus der ganzen Welt kamen die Schönen und Reichen um hier einen Teil ihres Jahres in wohliger Dekadenz zu verbringen.

Doch die "rot-blau-goldenen Zeiten" - wie man sie nannte - sind nun auch schon einige Dekaden her. Jetzt ist Zinnober abgerutscht in der Beliebtheitsskala, hat sogar schon fast die Phase des Massentourismus hinter sich gebracht und träumt trotzdem weiter von der guten alten Zeit. Dies allerdings im Angesicht von Gewalt, Umweltzerstörung, Entfremdung und einem allgemeinen Unbehagen angesichts der nur scheinbar funktionierenden Gesellschaft, die sich schon fast überlebt hat.

Damit dieser Ort nicht in Vergessenheit gerät, schrieb ich dieses Buch, aus dem hier als kleine Appetithappen eine kurze Abhandlung der einzelnen Plots für einzelne "Tausand Träume" folgen:

Es folgt der Plot für Geschichte # 1: DRAKEMAN, DER DRACHENMANN = Drakeman ist keine sechzehn Jahre alt. Seit seinem 12 Lebensjahr fliegt er, nur mit einem einzigen Seil am Boden fixiert, in einem Spezialanzug durch die Luft am Strand vor Zinnober. Und er verbessert den Anzug immer weiter. Waghalsige Flugabenteuer sind seine Spezialität. Viele Mädchen bewundern ihn und schauen aus Spass zu, von den reichen Urlaubern aber, die zuschauen, sammeln seine Helfer am Boden sammeln Geld ein. Drakeman aber träumt nicht von Geld oder Bewunderung. Ein alter Indianer hat ihm von "El Nondo Mondo"erzählt, DER Windböe, die es nur einmal im Leben gibt und die einen Menschen, der das Fliegen beherrscht, so wie Drakeman, um die ganze Erde tragen kann. Das ist Drakemans Tausand Traum: Wenn "El Nondo Mondo" kommt, dann wird er in der Luft sein, das Seil kappen und davonfliegen. Nicht für Geld, nicht für die Bewunderung über seinen Mut, sondern nur für sich allein.

Dies ist der Plot für Geschichte # 2: SUNDER BAY = Hier baden bevorzugt Sünder, denn man erzählt sich, dort könne man sich von seinen Sünden reinwaschen, wenn der Milchmond scheint. Doch wo bleiben die Sünden danach? Wirklich am Meeresboden, wie es die Legende besagt?

Der Plot der Geschichte # 3: ALS DER GROSSE REGEN KAM = Eines Tages fing es in Zinnober einfach zu regnen an und es hörte und hörte nicht auf. Zuerst finden das alle spaßig, dann aber, als viele Gäste ihre Buchungen stornierten, machen sich die Bewohner von Zinnober Gedanken, warum es zu dm Regen kam: sollte er etwa eine Gottesstrafe sein? Während geschäftstüchtige Einwohner aus der Not eine Tugend machen, die Stadt kurzerhand in "Zinnobad" umtaufen und ihre Gäste mit neuen Angeboten wie Regentanz und Tropfenmassage anlocken, geht ein Bewohner der Sache auf den Grund. Was er herausfindet ist gar nicht gut für die Stadt.

Es folgt der Plot für Geschichte # 4: Die Idee für die Geschichte ZIRKUSDELPHINE ist ein Nachzügler und entstammt einer Zeitungsmeldung der 90er-Jahre: Der Wanderzirkus "Baya Marino" zieht durchs Zinnober-Land nach dem Motto: Man nehme einen Bagger, grabe ein Loch in den Sand, lege das Loch mit einer Folie aus und lasse ein paar tausend Liter Wasser hineinfließen. Dann kippe man eine gute Prise Kochsalz und Chlorid hinein und fertig ist das Delphinarium, in dem die Zirkusleute Delphine und Seelöwen tanzen lassen. Schon bald hat das Mädchen Solitude Visionen. Sie glaubt, die Delphine des "Baya Marino" würden geistigen Kontakt mit ihr aufnehmen. Sie berichten ihr, daß sie am Tage stundenlang in sengender Hitze in einem winzigen dreckigen Wasserloch ausharren müssen, dessen Wassertemperatur subtropische Werte hat. Und nur deswegen machen sie am Abend als Ausgleich die ganzen Kunststücke: Bälle fangen, durch brennende Reifen springen, im seichten Wasser tanzen. Solitude beschließt, ihnen zu helfen.

Der Plot für Geschichte # 5: SYMBIOSE = Die "Law & Order Company" ist seit einem Jahr in der Stadt. Sie sucht in der Nähe der drei großen Dünen nach Gold - und findet es tatsächlich auch. Es dauert nicht lange und ganz Zinnober wird von Glücksrittern heimgesucht. Officer Maurice Millier von der Beachpolice kommen Zweifel an den Goldfunden, er vermutet einen großangelegten Schwindel. Überrascht stellt er fest, dass die L&O-Company von einer jungen Frau namens Stacy Grove geführt wird, der alle Männer zu Füssen liegen. Er ist sich sicher, die junge Frau früher schon einmal gesehen zu haben und entdeckt dabei eine "Symbiose". Doch auch Maurice Millier verfällt Stacy und erkennt, dass sie sein Schicksal sein wird. Am Ende ist Stacy Grove genau so schnell aus Zinnober verschwunden wie sie gekommen war. Nur für Maurice hat sich das Leben verändert. Er sucht verzweifelt nach Gold und nach Stacy.

Dies ist der Plot für Geschichte # 6: DIE WELLENREITER VON LOVE BEACH = Am Strand von Zinnober gibt es einen neuen Sport: Das Wellenreiten auf dressierten Delphinen, deren Abrichten extrem teuer ist, weshalb sich diesen Sport nur die Superreichen leisten. Jeden Abend sitzen einige tausend Menschen am Strand und beobachten den bizarren Wettstreit; Wetten werden angenommen. Bei den Beckerich Brüdern Burt und Geryon (die zwar den gleichen Vater haben - Ray Beckerich ist Milliardär und DER Getränkebaron des Landes -, jeder der beiden hat aber eine andere Mutter) ist der Ehrgeiz erwacht, den anderen zu besiegen, selbst wenn sein Tod der Preis für den eigenen Sieg sein sollte. Nicht einmal der Vater und die Mütter können etwas dagegen ausrichten. Und so kommt es eines Tages unweigerlich zum Showdown am "Love Beach".

Es folgt der Plot für Geschichte # 7: DAS HERRENHAUS = Häuser können Geschichten erzählen; in machen Gebäuden spuken Gespenster umheres. Was aber, wenn Häuser wahre Geschichten erzählen, und hierzu einen shakespearesken Spuk veranstalten? Auch hiervon erzählt einer meiner "Tausand Träume".


Alles in allem großartige Plots (wie ich finde) für atemberaubende Geschichten eines neuen Buches über meinen Lieblingsküstenort der Zukunft: Zinnober aka Vermilion Sands. Ausgedacht und niedergeschrieben am Strand von Groote Keeten am 06. August 2002. Und nach einem unglaublichen rot-glühenden Sonnenuntergang - ein Gewitter war im Anmarsch und durch den einsetzenden leichten Regen wurde der Sonnenuntergang immer flammender / vielleicht ist es aber auch nur die Erinnerung an ein Ereignis in Japan, vor 47 Jahren - schlafe ich nun in meinem Auto (das Zelt ist bereits verstaut) müde und zufrieden ein. Der Regen plätschert auf das Autodach und ich denke an "Als der große Regen kam". - Großartig!

Losung am 06. August

"Es gibt schlimmere Verbrechen, als Bücher zu verbrennen.
Eines davon ist sie nicht zu lesen."
(Ray Bradbury)

Sonntag, 5. August 2012

Montag 2002-08-05 | STRANDGUT (Teil 2)

Der zwölfte Tag: Raststätte Hünxe/Arnheim/Apeldoorn/Meppel/Herrenveen/Sneek/Ijsselmeer/Den Helder

Nicht ganz europäischer Nachtrag zum 05. August

Am 05. August 1962 wurde in den USA der leblose Körper einer Frau aufgefunden, der fast schon ein öffentlicher Körper gewesen war. Sexgöttin nannte man sie, außen Vamp und innen das ewige Kind, die blonde Venus. Und trotzdem gewinnt man mit diesen falschen Attributen nicht einen Zentimeter Land auf der "terra incognita" dieser Frau. - War es Mord oder Selbstmord? Für beide Thesen gibt es genügend Gründe zur Annahme. und noch mehr Fragen.

Wurde sie erpresst, weil sie als fast noch Jugendliche in einem Pornofilm mitgespielt hat? War sie als Geliebte des Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika nur ein Spielball oder schon ein Sicherheitsrisiko geworden? Oder war sie einfach nur unglücklich? Als Mensch, als Frau, als Schauspielerin?

Blond war sie nicht immer gewesen. Damals, in ihrem ersten Leben als Norma Jean Baker, Jahrgang 1926, hatte sie ein sehr schönes Nussbraun als Haarfarbe. Mit 16 heiratete sie einen Flugzeugmechaniker, wohl um aus der Tristesse ihres Elternhauses zu fliehen. Später dann, als Star, heiratet sie noch zwei weitere Male und zwar einen amerikanischen Volkshelden des Baseball und einen berühmten Schriftsteller; immer ohne Glück in der Liebe zu haben.

Dem Wunsch eine beliebte Schauspielerin zu werden, folgt bald die Ernüchterung, dass dies als realer Mensch nicht zu schaffen ist. Aus Norma Jean wird Marilyn und aus Frau Baker wird DIE Monroe. Auch die Haare ändert sie von nussbraun in blond; ihr Image folgt von artig und brav in dumm-lasziv und erotisch. Obwohl sie ihr weiteres Leben fast schon als Wanderpokal im Babel Hollywood sieht, glaubt diese Frau dennoch fest daran, dass sie ihr Glück machen wird.

Und - bitte nicht vergessen: es ist Hollywood - das Unfassbare geschieht- Aus der Raupe Norma Jean wird über Nacht der glitzernde Star. Und das brave Mädchen aus der Provinz spielt seine Glamour-Rolle perfekt, macht die Männer massenhaft verrückt und die Hersteller von Wasserstoffsuperoxyd reich. Hollywood buhlt um ein weiblichen Wesen, das man Monate zuvor wie eine Bittstellerin abgewiesen hatte. Hinreißend spielt sie in Komödien ihre Rolle, gibt all ihr Talent, wenn sie singt, ist das erste Playmate des ersten PLAYBOY-Heftes.

Doch siese Frau ist nicht so dumm, wie alle sie sehen. Marilyn will ins seriöse Fach und alle lachen über ihren neuesten Scherz. Bald erscheint sie nüchterner und pünktlicher bei ihren Therapeuten als am Set ihrer Filme. Wieder gibt sie alles...doch Hollywodd ist irritiert. Braucht man "so" eine Marilyn? Warum will sie aus ihrer erotischen Sparte ausbrechen?

Die Sache eskaliert. Im Sommer vor vierzig Jahren erlebt Marilyn eine Enttäuschung nach der anderen. Die Tragik beginnt als sie im Mai "ihrem" Präsidenten - dem sie im Verborgen alles gegeben hat: ihre Liebe, ihren Körper, ihre Seele - öffentlich ein privat-intimesGeburtstagsständchen singt, wie es die Welt noch nicht erlebt hat. Vor allem, wie sie singt und was sie dabei nicht singt ist entscheidend. Des Präsidenten Ehefrau ist schockiert und Kennedys Berater raten ihm  dringend ab: "diese Frau" wird zu heiß für ihn, hat das Potential, ihn zu ruinieren, auch wenn "diese Frau" selbst das niemals im Leben machen würde. JFK zieht die Notbremse.

Norma Jean ist am Boden zerstört, ist schon wieder sitzen gelassen worden, ausgenutzt und dann weggeworfen. Drei Monate später wirft sie dann ihr Leben weg. Am 05. August 1962. Viel zu viel Schlaftabletten und Alkohol findet der Gerichtsmediziner in ihrem schönen Körper.


"Goodbye Norma Jean...", sang einmal ein anderes Pseudonyn namens Elton John über sie, doch nur wenige Jahre später ändert er ihre Textzeile für eine englische Lady in "Goodbye Englands Rose...". Dies ändert jedoch nichts daran, dass er Musik und Text "Candle in the wind" einzig und allein für die Frau geschrieben hatte, die am 05. August 1962 ihr Leben aushauchte: "Loneliness was tough, the toughest role you ever played"!

Und dazu hatte Marilyn sogar das Streichholz immer in der Hand gehalten. Warum sie es nicht ausgeblasen hat? Vielleicht, weil sie dann für immer nur Norma Jean geblieben wäre: Norma Jean Miller. Und das wollte sie schießlich niemals wieder sein. das war der Grund und "...your candle burned out long before your legend ever did...".

Montag 2002-08-05 | STRANDGUT (Teil 1)

Der zwölfte Tag: Raststätte Hünxe/Arnheim/Apeldoorn/Meppel/Herrenveen/Sneek/Ijsselmeer/Den Helder

Ich ging gestern Abend früh schlafen und werde deswegen heute morgen früh wach. Und der frühe Vogel fängt den Wurm, um es mit den Amerikanern zu sagen - aber zu den AMerikanern komme ich später noch.

Holland bzw. die Niederlande hatte man aus dem Schulunterricht noch als recht kleines Land in Erinnerung und wird auch nicht enttäuscht. Kaum den dritten Gang eingelegt und schon ist man (sinngemäss) durch. Aber das macht den niederen Landfrauen und -männern nichts aus. Anders als in andere Nationen hatte man hier niemals das Bestreben gehabt, Krieg gegen andere Länder zuführen um sein eigenes Land zu vergrößern. Lieber kämpft man mit dem Meer und ringt ihm Quadratmeter um Quadratmeter ab. Doch, doch: iIm Kampf mit dem Meer, da kennt man sich aus.

In den Niederlanden gibt es auch eine Königin und die Untertanen haben die Chuzpe besessen, die Königin in einer unbeschreiblichen Portraitversion auf allen niederländischen Euromünzen abzubilden. So ist Holland - was soll man mehr sagen?

Ich habe mich für eine Route durch die Nierderlande entschieden, die von Arnheim in Richtung Norden führt und am Ende das Ijsselmeer von oben trifft. Interessamt ist der Riesendeich zwischen Haarlingen und Den Helder mit seinen riesigen Gezeitenschleusen, voll befahrbar als vierspurige Straße mit einigen Parkplätzen, um entweder das Meer oder die Binnensee zu betrachten. Obwohl es so etwas auch bestimmt in Holland gibt, habe ich bislang keine Eisenbahn gesehen; die einzigen Übergänge der Straßen waren für Schiffe und Boote und entweder klappte die Straße dann in die Höhe oder sie wurde so gedreht, dass die Schiffe bequem durchfahren konnten. Und interessanter weise dauert das ganze Prozedere auch nicht länger als wenn ein Zug die Straße gekreuzt hätte.

Ich warte und fahren und dann sehe ich das Meer wieder. Vom Mittelmeer hatte ich mich gerade erst verabschiedet und nun ist es schon wieder da. "Hallo Meer", rufe ich zu ihm und mache einen kurzen Halt, bevor der Damm zwischen der Nordsee und dem Ijselmeer beginnt. Viele Holländer stehen schon auf dem Rastplatz und haben Stühle und Tische aufgeklappt, als wollten auch sie dem Meer huldigen. Nur ein augenscheinlich gut situiertes Ehepaar mit großem Mercedes und noch größerem Wohnwagen (dessen Kennzeichen verrät, dass es Deutsche sind) stört die Ruhe etwas und bringt den Nordseewind, der einem um die Ohgren bläßt, ein wenig zum Schweigen.

Der Grund für des Windes Schwiegen ist für alle Beteiligten auf dem Parkplatz einfach zu erkennne: die Frau macht Fahrversuche mit dem langen Vehikel, der Mann gibt Anweisungen. Sie fährt immer und immer wieder im Kreis, manchmal vorwärts, dann wieder rückwärts. Es geht hin und her und her und hin. Der Wohnwagen ist wirklich lang.

Einige Holländer haben schon rote Bäckchen bekommen - sei es vom Neid wegen der Länge des Wohnwagens oder vom Mitleids wegen der Länge des Wohnwagens, wer kann das schon so genau sagen. Das Wetter ist jedenfalls herrlich. Drei Mal öffnet sich die Brücke, lässt Schiffe in das Ijselmeer hinein und andere hinaus. Ein beeindruckendes Schauspiel, jedenfalls für Menschen, die gerade keine Fahrversuche mit einem langen Vehikel machen.

Wahrscheinlich, denke ich mir, war es zuhause nicht möglich zu trainieren, ohne dass das gesamte Wohngebiet zugeschaut hätte. Hier jedenfalls, in der Heimat der Wohnwagen, ist man sozusagen unter sich, denken wahrscheinlich der Mann und siene Frau. Ich muss weiter und kann deshalb nicht bereichten, wie es weiter gegangen ist. Ich denke, alle, auch der Wohnwagen, haben es am Ende überlebt.

Über den Damm fahre ich weiter nach Den Helder, zur Sommerfrische Amsterdams. Leichter Regen setzt ein und ist auch schon gleich wieder verschwunden. Auf dem Parkplatz vor den Stranddünen fällt mir ein weiteres ein deutsches Ehepaar auf. Präziser ausgedrückt: Mir ist eine deutsche Familie aufgefallen mit ihrem VW Sharan. Ein Ehepaar aus Limburg an der Lahn mit zwei Kindern, einen kleinen Sohn und eine großen Tochter.

Es hatte, wie gerade beschrieben, kurz zuvor geregnet und das trieb die Vier Deutschen zur Eile. Die versammelten Niederländer dagegen, die ebenfalls auf dem Parkplatz am Strand von "Groote Keeten" ihre Autos geparkt hatten, packten interessiert ihre KLappstühle auf und bildeten das Publikum für die nordischen Wagner-Festspiele.

Zuerst erlitt die Mutter eine Art leichten Nervenzusammenbruch, da ihr Sohn zuerst in eine Pfütze getreten hatte und alsdann unbekümmert in den Volkswagen einzustiegen versuchte. Raunen im Publikum, was wohl ausdrücken sollte: Die Deutschen, die können so etwas eben, also mal kurz am Strand eine komplette Oper aus dem Ärmel schütteln.

"Ann-Kathrin, mache bitte Deinem Bruder den Fuss sauber, aber dalli. Und Du (Mutter blickt auf den Ehemann) fährst jetzt das Auto so, dass wir nicht die ganze Zeit im Nassen stehen." Der Gatte tut es und erntet reichlich Lob...nicht vom Publikum, sondern von seiner Frau. "Günther, ich sagte doch, Du sollst das Auto so hinfahren, dass es nicht im Nassen steht." Die Frau sprach so gewählt und deutlich, dass alle Holländer ihre Worte ohne Probleme verstanden. Bedankt!

Leicht nervös geworden, macht der Vater einen zweiten Versuch. "Also, was soll denn das jetzt wieder sein, Günther?“, fragt die Walküre mit leicht strenger Stimmlange. Wütend lässt der Ehemann daraufhin im nassen Grass die Reifen durchdrehen, was das Publikum mit leichtem Gelächter quittiert, bevor er sein Kraftfahrzeug mitten auf die Zufahrtsstraße stellt. Ein wahrlich trockener Ort - es gibt verhaltenen Beifall. Verhalten deshalb, weil einige unverbeserliche Holländen, die dem Schauspiel nicht beiwohnen wollten, gerade in diesem Moment eigentlich vom Parkplatz wegfahren wollten.

Der zweite Akt beginnt; es ist offensichtlich eine moderne Kurz-Oper. "Ann-Kathrin, hast Du Deinem Bruder den Fuss sauber gemacht?" Ann-Kathrin nickt. "Lüg mich nicht an", schreit die Mutter voller Inbrunst. "Der Fuss ist ja immer noch nicht sauber." Sie dreht sich theatralisch um und blickt von der Bühne ind Richtung des Publikums. "Seht nur", sagt sie, "die ganzen Holländer schauen schon zu. Ja bin ich denn nur mit Idioten zusammen. Wegen Euch muss man sich ja in Holland schämen."

Die Holländer schütteln den Kopf und machen besänftigede Handbewegungen. Ach, soll das bedeuten, wegen uns doch nicht. Der Junge indes, dessen Name mir leider verborgen geblieben war, steigt nun ein. "Paß bloss auf, alter Schwede. Nachher ist wieder das ganze Auto versaut und wer darf das dann wieder sauber machen?" Das Publikum weiß nun auch, dass der Junge gar nicht aus Deutschland stammt sonder ganz offensichtlich Skandinavier ist, und dass sein Aussehen ein Alter vortäuscht, das der junge Mann wahrscheinlich schon um ein Vielfaches überschritten hat. Es folgt sogleich der letzte Akt des Schauspiels.

"Ann-Kathrin, was ist mit Deinen Füßen? Du warst doch auch im Matsch." Nein, Mutti, war ich nicht und auch die kleinen Pfützen sind nicht wirklich dreckig, die eignen sie fast schon zu m Säubern von Schuhen. Die Mutter erstarrt bei diesen Worten des Mädchens, scheint einer Ohnmacht nah.

"Hast Du das gehört? Hast Du gehört, was Deine Tochter eben gerade zu mir gesagt hat? Nun sag doch auch mal was, Günther!". Die Holländer halten die Luft wan. Was wird Günther zu seiner Tochter sagen um die böse Stiefmutter zu rächen? Der Fortgang des Schauspiel ist eher unspektakulär, denn Günther sagt zu Ann-Kathrin, dass sie ihre Füsse sauber machen soll.

"Da hörst Du es, Kind. Papa hat auch gesagt, dass Du Deine Füsse noch sauber machen musst." Erleichterung beim Publikum: die Mutter ist doch die echte Mutter und Ann-Kathrin nicht deren Stiefkind. Am Rande des Geschehens warten schon drei Holländer darauf, dass die Straßenblockade aufgehoben wird.

Nocheinmal dreht sich die Mutter ins Publikum und spricht: "Ich weiss gar nicht, was es da zu gaffen gibt". Ohne sich für die Geduld der wartenden Autofahrer zu bedankensteigt sie ein. Mit ungereinigten Schuhen, versteht sich, aber mit einem reinen Gewissen, immer das Beste zu wollen für ihre Familie. Und dann fährt auch schon der Sharan von dannen mit einer vollauf glücklichen Familie, einem noch viel glücklicherem Verlauf des weiteren Urlaubs entgegen.

Das Volk zerstreut sich, der Versammlung löst sich auf. Jacques Tati, der von oben Regie geführt hat, verschwindet hinter einer Wolke und ich fahre auf meinen Campingplatz in Callantsoog.

Losung am 05. August

"Man kann die Menschen in zwei Gruppen einteilen:
Bei der einen ist der Hut für den Kopf da,
bei der anderen der Kopf für den Hut."
(Jacques Tati)

Samstag, 4. August 2012

Sonntag 2002-08-04 | DAS ELEKTRONISCHE RADIO

Der elfte Tag: Saarbrücken/Koblenz/Köln/Essen/Dortmund/Essen/BAB 3 Raststätte Hünxe

"In Saarbrücken fand ich die Raststätte meiner Reise, auf der am wenigsten los war." - So werde ich später zitiert werden. Zum Abschluss des gestrigen Geschichte, hatte ich schon Douglas Adams zitiert und ich bleibe dabei, obwohl inzwischen die Sonne einen neuen Tag beleuchtet.

Nur Trucker sagten sich hier gestern Abend "Gute Nacht"; Fuchs und Haase sind längst vor Langeweile gestorben. Folglich findet man im Innern der Raststätte alles, was dem Klischee nach das Truckerherz begehrt. Blinkende Lämpchen, Fensterdekorationartikel, kleine Fernseher, Schals mit Namen wie "Iveko", "Werner" oder "Türkei", jede Menge Hefte mit frierenden Damen auf dem Titelblatt, die Chrom liebkosen, es gibt CB-Funk Accessoires, Kaffee pur, Kaffee als Dosengetränk, Kaffee in Schokoladenform, Kaffee als Tablette. Ich muss mich hier ernsthaft fragen: sind Trucker denn tatsächlich so, wie es das Klischee vorgibt? Wenn ja, dann erleben sie hier "Stille Tage im Klischee", wie es Sankt Otten versprechen.

Über Koblenz, Köln und Essen fahre ich nach Dortmund - Ankunft am Mittag. Obwohl oder gerade weil am frühen Morgen, so gegen fünf oder sechs Uhr, hier das "Juicy Beats"-Elektronik-Festival im Westfalenpark zu Ende gegangen war (man konnte es im gesamten Ruhrgebiet über die Uni-Radios hören - und falls Sie es noch nicht wissen: ich höre gerne Radio), sah man in der gesamten Innenstadt, vor allem aber in Bahnhofsnähe, die Nachwirkungen der Elektromusik auf den menschlichen Körper: Die Techno-Beats noch in den Köpfen, lagen überall Raver zwischen Beeten und Büschen. Ob dies wirklich die Antwort des Ruhrpotts auf die Berliner Loveparade sein soll? Noch dazu, wo Klaus Schulze heute 55 Jahre alt geworden ist. Wirklich schade - ich wäre gerne gestern mit dabei gewesen. Aber wer zu spät kommt, den bestraft bekanntlich das Leben. Beziehungsweise der Anblick der in Dortmund gestrandeten Raver.

Ich würde mal sagen: 25 % schliefen friedlich im Freien, 40 % in der Chillout-Lounge des passenderweise technisch und zugleich kalt wirkenden Bahnhofs und 35 % hüpften wie die Affen durch die Innenstadt, hangelten von Baum zu Baum und versuchten die unerwarteten Nebenwirkungen pharmazeutischer Präparate auszuhalten. Das "größte deutsche Festival elektronischer Musik" hatte tags zuvor 10.000 Besucher angelockt, vermeldete das Ruhrpott-Radio. Halb so viel wie erwartet. Der Regen am Nachmittag, so die Veranstalter, sei dafür verantwortlich. Klar: Irgendeinen Grund gibt es immer und das Wetter ist schließlich höhere Gewalt. Da braucht man sich dann offiziell keine Gedanken mehr über Veranstaltungsmängel zu machen. Nur noch um das in den Kassen fehlende Geld.


Weiter geht es von Dortmund nach Holland. Auf dem Weg über die Autobahn höre ich weiter Radio und zwar, das ist doch keine Frage, holländische Sender. Das ist Pflicht, denn die Niederlande haben ja schließlich eine echte Radiokultur. Da gab es zum Beispiel einst "Radio Veronica", dem ersten echten Piratensender, der in den frühen Siebziger Jahren von einem Schiff außerhalb der 3 Meilenzone vor Hollands Küste das sendete, was andere Sender nicht spielen wollten oder konnten. Bei "Veronica" konnte man aber seinerzeit nicht nur Musik hören. Man bekam auch, jedenfalls, wenn man zuhörte, alles erklärt, was man rund um die Musik wissen musste. Das war damals einmalig und gehört in der heutigen Zeit zum Pflichtprogramm jedes guten Senders in Europa.

Überhaupt erklären die Holländer ihren Zuhörern im Radio sehr viel. Wenn zum Beispiel in Israel eine Autobombe explodiert und Menschen sterben, dann ist diese traurige Nachricht den Radioleuten in Haarlem mindestens folgende Erklärung wert (Anmerking: De nachfolgende Word wurden von mir in Ermangeling von de Kenntniss der wirkliche Worde nederländischer Sprak dramadisierend nachempfonde!):

"In Israel is vor wenigliche Stonde enne Expolsioon geweese. Et hat moiglicherwese ooch einige doode gegewwe. Man weerd aber noch de weitere Entwickling abwoorde misse. De Explosioon scheint von ener Bombe geweese tu sin, die in enne Automobeil deponeert gewoorde iss."

Diese Art der jahr(zehnt)elangen positiven Berieselung hat meiner Ansicht dazu geführt, dass die Menschen der Niederlande eine gute Allgemeinbildung und jede Menge Hintergrundwissen besitzen. Von den Entwicklungen im Sport und im Musik- und TV-Showbuisiness einmal ganz abgesehen. Auch die Stufe der lockeren Radioberichterstattung, die man in den Niederlanden inzwischen erreicht hat, ist erstaunlich. In einer Reportage über Straßenmusikanten in Uttrecht werden auch die Zuhörer befragt und die geben gerne Auskunft darüber, warum sie den wackeren Musikanten nur 2 Cent gegeben haben. Und der Eindruck bleibt: Die Holländerinnen und Holländer sind immer gut drauf und haben keine Hemmungen über alles zu sprechen. Tabus gibt es kaum, aber immer kommt das, was man sagt und empfindet, irgendwie nett über den Äther rüber.

Ich bin heute am Abend etwas müder als sonst. Warum dies so ist, das kann mein Körper mir nicht sagen. Aber er ruft nach einer "Auberge" ... Sie wissen schon. Die Raststätte Hünxe kommt da wie gerufen und ich lege mich erschöpft schlafen. Schnell schlafe ich ein und träume sogleich von einem Radio, das immer und immer wieder Kraftwerks "Autobahn" abspielt. So lange, bis es selbst zu einer Autobahn wird, mit Radiostationen als Raststätten. Oder sind es rot-weiß-getreifte Leuchtturm-Pylone? Ich stehe am Rande, eine lange Pfeife im Mund wie Jacques Tati, und wundere mich über die Geschwindigkeit, mit der der Fortschritt fortschreitet. Selbst wenn es nur im Traum war.

Losung am 04. August

"La musica ideas portara
y siempre continuara
Sonido electronico
Decibel sintetico"
(Kraftwerk)

Freitag, 3. August 2012

Samstag 2002-08-03 | VERDUN LEBT

Der zehnte Tag: Verdun/Metz/Saarbrücken

Stille!

Ich habe Verdun besucht. Schon gestern Abend war ich kurz vor Geschäftsschluss in der Stadt und ihren Geschäften. Verdun ist eine schöne kleine Stadt mit schönen kleinen Geschäften und einem schönen kleinen Yachthafen. Verdun liegt nämlich an der Meuse. Um Irritationen schon jetzt vorzubeugen sei gesagt, dass dieser Fluss in Frankreich nicht so ausgesprochen wird, wie ihn kleine dumme deutsche Jungen aussprechen würden. Und überhaupt: Für die Deutschen hieß der Fluß hier schon immer anders. "Von der Maas bis an die Memel..." heißt es in einer Strophe im "Lied der Deutschen", die wir heute nicht mehr singen wollen, und die Meuse ist, na klar, die Maas.

Etwas erschreckt hat es mich schon, dass gleich nach dem Ortseingangsschild mit dem schaurigen Namen "Verdun" (aha, denkt man: Jetzt ist man also da!) das unsägliche gelbe "M" eines amerikanischen Fast-Food-Riesen zu sehen ist. Kann das passen? Ein Hamburgerrestaurant gleich neben blutdurchtränkten Schlachtfeldern? Um es vorweg zu nehmen: es kann und das sogar ganz gut, den zumindest die Jugend von Verdun hat ihren eigenen Frieden gemacht mit der Geschichte und hätte wahrscheinlich schon fast vergessen, was in ihrem Ort, in ihrer Stadt irgendwann einmal passiert ist, wenn, ja wenn, sie nicht auf jedem Zentimeter ihrer Stadt daran erinnert werden würde. "Verdun, la vie" / "Verdun, Leben" ist überall zu lesen und weshalb auch sollte Verdun nicht leben.

Es scheint für Verduns Stadtväter (...und auch Stadtmütter, denn, da war doch was mit "egalite" oder?...) gute Gründe zu geben, dies immer und immer zu wiederholen. Die gilt es für mich, heute herauszufinden. Also fange ich einmal ganz von vorne an: Weshalb verbindet man auf der ganzen Welt den Namen und den Ort "Verdun" mit dem Gegenteil von Leben?

EIN KLEINER AUSFLUG IN DIE WELTGESCHICHTE

Im Sommer 1914 ist es, als in Sarajevo der österreichische Thronfolger Franz Ferdinand und seine Frau ermordet werden und ein mörderisches Schachspiel entbrennt. Am 28. Juli 1914 erklärt das Kaiserreich Österreich-Ungarn dem Staate Serbien den Krieg. Russland steht Serbien bei und erklärt umgehend Österreich den Krieg. Deutschland steht Österreich bei und der Deutsche Kaiser Wilhelm der II. von Gottes Gnaden erklärt erst Russland den Krieg und heute vor genau 88 Jahren, am 03. August 1914, auch der Grande Nation.

Als Deutschland einen Tag später auch noch das bis dahin sich neutral verhaltende Belgien überfällt, greift England in den Krieg gegen Österreich-Ungarn und Deutschland ein - ein Weltkrieg ist entstanden; weitere Länder folgen, darunter die Türkei und die Vereinigten Staaten von Amerika.

Bei Verdun will die deutsche Kriegsmacht nach Frankreich vorstossen, um nach Überwindung der französischen Verteidigungslinien schnell Paris zu erreichen, wie man das 1870/71 bereits einmal geschafft hatte. In Verdun steht deshalb auch die Hauptmacht der französischen Defensive und leistet erbitterten Widerstand. Die Truppen ddes Kaisers rennen sich fest: ein Stellungskrieg entbrennt, bei dem der jeweilige Sieger immer nur wenige hundert Meter weit vordringen kann - um dann verlusstreich wieder zurückgedrängt zu werden. Das geht nicht nur einen ATg lang so, eine Woche oder eonen Monat, nein, es wird Jahre lang so fortdauern.

Der Erste Weltkrieg fordert insgesamt bis zu seinem Ende im Herbst 1918 über 10 Millionen Menschenleben und wegen des Einsatzes von Giftgas, Flammenwerfern und Splittergranaten noch einmal doppelt so viele Verwundete. 30 Millionen Opfer hat der Doppelmord eines einzigen Attentäters der bosnisch-serbischen nationalistischen Bewegung zur Folge. Und dabei zählten Verdun und sein Fort Douaumont zu den schrecklichsten Orten dieses Landkrieges.

Das Fort Douaumont zu bauen kostete die Französische Republik einst 6,1 Mio. Francs in Gold und es war damit eines der teuersten Kriegsanlagen der Franzosen. Fort Douaumont bot einer Garnison von 417 Soldaten und 6 Offizieren Raum. 1913 war es fertig geworden. Aus taktischen Gründen beschließt die französische Armeeführung rund ein Jahr nach Kriegsbeginnam, das Fort mittelfristig aufzugeben, die Garnison wird langsam aufgelöst, die Vorräte aufgebraucht, die Munition mitgenommen. Kanonen und Geschütztürme werden ebenfalls entfernt und man lässt die Deutschen das Gelände um das Fort einnehmen.


Am 21. Februar 1916 war die Sache abgeschlossen und bereits am 25. Februar 1916 konnten sich Deutsche Soldaten ungehindert in Fort Douaumont bewegen. Allerdings begannen die Franzosen ab dem 26. Februar 1916 Fort Douaumont Tag um Tag mit jeweils fast 4.000 Schuss vom Kaliber 155 bis 400 zu beschießen. Am 08. Mai 1916 kommt es während des Beschusses der Franzosen in den Katakomben von Fort Douaumont zu einer Katastrophe.

In das für maximal 500 Soldaten ausgelegten Fort sind in den Tagen zuvor immer mehr verwundete Deutsche Soldaten gebracht worden. Fast 2.000 Deutsche sind an diesem 08. Mai 1916 in Fort Douaumont. Früh am Morgen erschüttert eine starke Explosion das Fort; ein Granatendepot war explodiert und hatte ein in der Nähe untergebrachtes Flammenwerferdepot entzündet. Eine Feuerwalze bewegte sich in Sekundenschnelle durch die unterirdischen Gänge es Forts. 800 bis 900 Soldaten verloren innerhalb von Minuten ihr Leben. Außerhalb des Forts konnte diese Menge an Leichen wegen des französischen Beschusses nicht bestattet werden. Deshalb wurden sie auf Befehl des Deutschen Oberkommandos in zwei Kasematten gelegt und eingemauert.

Durch Spione von dieser Schwächung des Forts unterrichtet, verstärkten die Franzosen ihre Angriffe und ab dem 22. Mai 1916 gelang es ihnen, das Gelände um Fort Douaumont Meter für Meter und unter erheblichen eigenen Verlusten an Soldaten zurück zu erobern. Es dauert noch bis zum 24. Oktober 1916, bis das Fort wieder ganz in der Hand der Franzosen ist und bleibt.

Unweit des Forts befinden sich die Gedenkstätte mit den großen Soldatenfriedhöfen und das sogenannte "Beinhaus". In Beinhaus liegen die Gebeine von 130.000 Soldaten, die in seinem unmittelbaren Umfeld gestorben sind. Ich fahre durch einen Wald, der das Ortsschild "Douaumont" trägt. Hier war vor dem ersten Weltkrieg das Dorf gewesen, welches dem Fort seinen Namen gegeben hatte. Während der Kämpfe um das Fort, vor allem aber beim Rückzug der Deutschen Soldaten, war das Dorf - wie es so schrecklich heißt - "...dem Erdboden gleichgemacht..." worden. Und man sieht genau hier, was diese Floskel bedeutet; das Dorf wurde nie wieder aufgebaut.

Am Ende des Waldes wird es urplötzlich wieder hell um mich herum. Jetzt sind das Beinhaus und Abertausende von Steinkreuzen zu sehen. Vor dem Beinhaus angekommen steige ich aus und habe einen Überblick auf das Gelände, dessen Erde fast drei Jahre lang im wahrsten Sinne des Wortes blutgetränkt war. Hier also haben sich die schlimmsten Tragödien des Krieges abgespielt, in den Frankreich von Deutschland vor genau 88 Jahren gezogen worden war. "Silence" / "Stille" fordert man im Innern des Beinhauses vom Besucher obwohl das beinahe nicht notwendig ist: Es fehlen einem die Worte!


Die Überreste von 130.000 Menschen, mehr als alle Männer und Frauen und Kinder jeder kleineren Großstadt in Deutschland oder Frankreich, sind hier in diesem einen Haus gesammelt worden. "Wer zählt die Völker, nennt die Namen?" scheint Schiller zu rufen und Bob Dylan antwortet ihm "The answer, my friend, is blowin in the wind. The answer is blowin in the wind.“ - Aber da war doch noch etwas, denke ich. Etwas, das ich als Jugendlicher dreißig Jahre zuvor hier gesehen und was mich seit damals nicht mehr in Ruhe gelassen hatte.

Wieder vor dem Beinhaus schaue ich minutenlang ratlos am Sockel entlang. Wo sind die kleinen Fenster am Sockel des Beinhauses, denke ich. Und als ob er geahnt hätte, was ich suche, winkt mich ein älterer Mann zu sich. Auf französisch fragt er mich mit konspirativer Stimme etwas, aber ich verstehe es nicht. Trotzdem sage ich kurz und knapp "Oui!".

Zusammen laufen wir um das Beinhaus herum und etwa in der Mitte zwischen dem Seitenflügel und der Basilika geht er plötzlich auf die Knie und ich tue es ihm gleich. Und richtig, hier, auf der Rückseite des Beinhauses sind sie, die Fensterchen, die es dem Betrachter erlauben, einen Blick in das Dunkel unter der Treppenflucht des Beinhauses zu wagen.

Da liegen sie: Die Überreste der 130.000 Gefallenen. Knochen, Schädel, Rippen, Finger- und Fußglieder, Wirbel, Hüften, Gelenkknochen. Wir, der Franzose und ich, schauen sie an und die Augenhöhlen der Schädel blicken auf uns. Und verbinden schon wieder alles miteinander. Für immer. Auch mich und den Franzosen, der denkt ich sei ebenfalls Franzose, sein Landsmann. In diesem Moment erkenne ich, warum und wofür was "Verdun lebt": hier sind wir beide Europäer.

Am Abend verlasse ich die Stadt und fahre über die Autoroute nach Sarrebruck - ohne irgendeine Grenzkontrolle. Ich muss daran denken, dass dies zu der Zeit undenkbar schien, als die 130.000 Soldaten noch lebten. So ändern sich Zeiten und Menschen. Und trotzdem heilt die Zeit nicht alle Wunden. Da hilft auch kein amerikanisches Schnellrestaurant. Und das ist auch gut so.

Gegen 23 Uhr komme ich in Saarbrücken an und schlafe wieder im Hotel Stern auf einer Raststätte am Ende des Universums. Und ich denke beim Einschlafen an die Toten und den Wunsch, dass sie sanft ruhen mögen - oder wie der Engländer treffender zu sagen pflegt: "Rest in Peace". Und natürlich in

Stille!

Losung am 03. August

"L'espace de l'esprit, là où il peut ouvrir ses ailes, c'est le silence."

"Der Raum des Geistes, an dem er seine Flügel öffnen kann, das ist die Stille."
('Saint-Ex')